Assimilation als Menschenrechtsverletzung?

Diskussion über Äußerungen des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan, der die Assimilation als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" bezeichnete. 200802

Zitat eines Forenmoderators: "Wozu führt denn eine Überanpassung (auch als Assimilation bekannt)?"

Nein, da widerspreche ich, denn Assimilation bedeutet soziologisch, eine andere Kultur oder Teile davon zur eigenen Kultur werden zu lassen.

Wenn Du von "Überanpassung" sprichst, dann wäre "Überassimilation" synonym, aber den Assimilationsbegriff würde ich nicht ins Negative verkehren wollen - und werde dazu möglicherweise auch frühere Texte überarbeiten müssen.


Zitat: "(Assimilation) Sie führt zur endgültigen Entwurzelung und zum Verlust der eigenen Kultur und Lebensweise ..."

Wenn wir Menschen mit Bäumen vergleichen, so tun sich junge Bäume mit der Umpflanzung leichter als ältere.
Ältere Menschen wiederum haben den jüngsten Menschen und den Bäumen gegenüber den Vorteil, dass sie über die Umpflanzung eigenentscheiden, wenn es die Verhältnisse zulassen.
Den Bodenverhältnissen gilt es sich anzupassen, ansonsten geht es schief.


Zitat: "... in dem Versuch, sich einer anderen Kultur und Lebensweise ohne Kompromisse anzupassen."

Es gibt zwar Leute, die das verlangen, aber in der Mehrheit der Deutschen sieht es dann schon differenzierter aus.
Und umgekehrt kenne ich absolut keinen Türken oder sonst wen, der sich in kompromissloser Anpassung versuchen würde.


Zitat:  "Letzteres kann aber nur funktionieren, wenn es der Kulturkreis, in den man sich so überanpassen will, zuläßt."

Warum "zulassen", was doch noch eben als schlechtes Szenario erkannt wurde? Damit würde man alle Seiten zum gemeinsamen Nachteil überfordern.

Mal aus meiner Praxis: Beruflich bedingt und privat habe ich jede Menge mit Türken, Kurden und Menschen aus aller Welt zu tun. Als die Fußball-WM ohne Beisein der Türkei stattfand, gab es in meiner Mieterschaft und den Freundeskreisen nicht einen Türken, der nicht zu Deutschland gehalten hätte. Es mag Ausnahmen gegeben haben, aber nicht in meiner Sichtweite.
Das war Ausdruck für eine gelungene Assimilation, beruhend auf Freiwilligkeit, wie den Menschen deutlich anzumerken war, wenngleich sich bei dem einen oder anderen auch eingemischt haben mag, den Anlass zu nutzen, um durch Fähnchen am türkischen Taxi soziales Einvernehmen mit der deutschen Bevölkerung zu demonstrieren. Aber ebenfalls unverkrampft und freiwillig. - Gar nichts spricht dagegen.

Hätte die Türkei an der WM teilgenommen, wäre es sicherlich anders gewesen, denn soweit reicht vielen Türken die Assimilation nicht.

Im Vergleich/Unterschied dazu meine eigenen Assimilationen: Geboren in Dortmund, "umgepflanzt" in ein Kaff südlich davon, ergaben sich in diesem Kaff in Sachen Fußball keine sonderlichen Identifikationsmöglichkeiten, denn die Vereine waren einfach zu schwach.
Wäre ich gefragt worden, wem ich den Titel wünsche, so hätte meine Antwort "Dortmund" gelautet.
Dann "wurzelte ich nach Berlin um". Zunächst mochte ich "Herta BSC" wenig abzugewinnen, schon der Name und die schlechten Leistungen.

Nach und nach identifizierte ich mich mehr mit dieser Stadt, würde also auf die Frage nach meinem Titelfavoriten "Herta BSC" sagen, denn es ist nur zu natürlich, dass es der Stadt "gut gehen" soll, in der es mir gut gehen soll.

Wenn allerdings Endspiel zwischen München und Dortmund wäre, so wäre wiederum "klar, dass ich zu Dortmund halte". Das wäre mir kein "Rückfall", sondern hat seine natürlichen Gründe in eben meiner Biographie. Wäre ich nach München umgewurzelt, sähe es wiederum anders aus. Um Dortmund täte es mir leid, aber dann "sollen sie verlieren".
Und zöge ich nach Dortmund, so würde ich wieder ...

Für mich ist indes kein Fußballspiel irgendwie Drama, denn Fan bin ich einzig meiner Frau. Glaubt sie zwar nicht, denn sie sieht mich zu viel mit der Initiative-Dialog schmusen.

Immerhin zeigt sich an Fußball-Parteilichkeiten ein rasch verständliches Beispiel für die Wirren und Lichter misslingender oder gelingender Assimilation.

Wenn Türken in Deutschland zu Deutschland halten würden, obwohl das Spiel gegen die Türkei geht, dann erst wäre ihnen Deutschland "Heimat" und die Türkei "frühere Heimat" oder "zweite Heimat". Wenn deutsche Türken dennoch zur Türkei und nicht zu Deutschland halten, sollte es auch kein Drama sein, denn dann (so zeigte die WM) ist vielen von ihnen Deutschland immerhin "zweite Heimat" geworden.

Die Fußball-Parteilichkeit ist zwar ein schmales Segment, aber geeigneter Indikator für den Grad von Assimilation (veränderte Identifikation) einerseits und andererseits dafür, dass Assimilation gerade meist nicht den Weg der "Kompromisslosigkeit" geht, sondern den Weg der kleinen Schritte und dabei die Teile aufnimmt, die gefallen. "Ums Ganze" geht es allenfalls ganz wenigen, die sich dann zwangsläufig überfordern.


Zitat:  "Erdogan hat teilweise sogar recht: ..."

Der türkische Ministerpräsident Erdogan bezeichnete die Assimilation als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Das ist vollständig falsch, also auch nicht "teilrichtig", denn verbrecherisch wäre allenfalls eine zwangsweise Assimilation in negativer Absicht und Wirkung.

Es ist jedoch in keiner Weise verbrecherisch, wenn Druckmittel erhöht werden, die beispielsweise zum Ziel haben, dass Einwanderer die Amtssprache erlernen, wenn solches Können schon keine Einwanderungsvorraussetzung war; dass Einwanderer die Frauengleichberechtigung respektieren und die Gewaltlosigkeit in der Ehe und Kindeserziehung, die Bekenntnisfreiheit u.v.m., denn das "schulden" sie wie jeder Ureinwohner der hiesigen Rechtsordnung allemal und gleichermaßen.

Die Frage kann allenfalls sein, mit welchen Mitteln dieses Ziel erreicht werden kann und darf, ohne Menschen zu überfordern, denn das kennen viele von uns hoffentlich aus den eigenen Familien, dass Opa sich mit manchen Menschenrechten schwerer tat, die uns heute "selbstverständlich" sind, so dass wir ihm kurz vor der Kiste auch so manches an Kulturrevolution ersparten.

Der Assimilationsbegriff ist von zentraler Bedeutung für die Beschreibung von Prozessen in der multikulturellen Gesellschaft und der globalisierten Welt insgesamt. Der Verunglimpfung dieses Begriffs durch den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan können wir verdanken, wenn wir nun neu und sachlich zu definieren versuchen, was denn schlecht oder gut an Assimilierung sei.

Die weitere Frage könnte sein, ob Assimilation "Gleichmacherei" bedeute, also dem Wesen nach kulturelle Vielfalt verschütte, mithin auch die multikulturelle Gesellschaft?

Wir kennen insbesondere aus unseren Foren recht viele, die der Multikulturalität nichts Positives abgewinnen können. Insbesondere diese Klientel beklagt einerseits fehlende Assimilation, scheint sich andererseits bewusst zu sein, dass jede Vermengung von Teilen immer auch für den größeren Mengenanteil Veränderung mitbringt.
Das ahnen sie zurecht, denn Assimilation und Integration sind für Zuwandernde und Zuwanderungsgesellschaft durchaus ein wechselseitiges Geschäft. Auf einer Party von Journalisten mit ausnahmslos "Ureinwohner-Hintergrund" wurde neben der Kartoffel auch Fladenbrot gereicht - und gegessen.
Die gegenseitige Assimilation ist also ein Ding von Angebot und Nachfrage, während die Monokulturalisten es lieber sehen würden, wenn auf dem Verordnungswege nur die Kartoffel wäre. Das aber genau darf nicht Gesetz sein, sondern wäre allenfalls ein netteres Beispiel für eine Norm von Traditionsvereinen, die ich jedem zur Wahrung seiner persönlichen Identitätswahrung gönne, was immer er darunter versteht und anderen die Freiheit belässt.

Also bin ich Herrn Erdogan für dieses Thema dankbar, wenngleich es abenteuerlich ist, wenn ausgerechnet ein Premier eines Staates gegen Assimilation spricht, der durch Leugnung kurdischer Geschichte und Identität aus seinen Konflikten nicht rauskommt.

Und ganz klar, dass ich Erdogan auch nicht dafür dankbar sein mag, was er an Diffamierung bezweckte und veraltete Geister weckte, so beispielsweise auch in der deutschen Politik, wenn nun die Empörung größer als die Aufklärung würde. Wenn beispielsweise Leute wie CSU-Huber solch Anlass willkommen ist, um die Türkei für die EU-Mitgliedschaft zu disqualifizieren, und wenn zugleich davon Rede ist, Erdogan habe sich "in die inneren Angelegenheiten eingemischt", obwohl das Ob von Einmischungen gar nicht in Frage stehen sollte, sondern einzig und allein das Wie.
Auch Huber ist die EU, aber hat längst nicht die geistige Reife, um die EU in ihrem positiven Potential zu nutzen. Dann nämlich macht man es umgekehrt: "Hallo Herr Erdogan, Sie irren aus den und den Gründen. Und die EU besteht auf Assimilierung. Also legen Sie der Türkei nicht unnötig weitere Hindernisse in den Weg."

Nun liegt es an jedem, die Wogen zu glätten statt aufzupeitschen, denn im Aufgepeitschten tut sich das Ruder schwerer.

- markus rabanus -  >> Diskussion

Oberbegriffe >> Assimilation, Integration, Multikulturelle Gesellschaft, Fremdenfeindlichkeit

Politiker >> Erdogan

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