Atatürk 

Mustafa Kemal Atatürk
(* 1881 in Saloniki; † 10. November 1938 in Istanbul) ist der Begründer der modernen Türkei und erster Präsident der nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Osmanischen Reich hervorgegangenen Republik Türkei.

Persönliche Wertschätzung

Mir gilt Mustafa Kemal Atatürk als Brückenbauer zwischen Orient und Okzident und als Überwinder des Osmanismus, wenngleich nicht alles gelingen konnte und erhalten geblieben ist.
Ob Atatürk die bestmögliche Politik machte, steht auch in Relation dazu, was es an Alternativen gab und wie sich diese Alternativen verhielten.
Z.B. die Aufstände zugunsten von Sultanaten und Kalifaten. Das wären nicht die Alternativen, für die ich hätte streiten mögen, aber im Unterschied zu Atatürk wahrscheinlich doch eher den Kompromiss gesucht hätte, während er den radikalen Ansprüchen der Aufständischen kaum entgegenkommen mochte.

Der Personenkult um Atatürk gehört zum Leidwesen vieler Politik und wird oft missbraucht. Aber die Feindschaft gegen Atatürk verirrt sich nicht minder in die absurdesten Winkel. Insbesondere extremistische Vertreter von Minderheiten kritisieren ihn nach dem Motto, dass alles, was der Türkei schade, gut für die Minderheiten sei. So lassen sie auch an dem Modernisierer kein gutes Haar.

Glück und Unglück der Menschen hängen heute jedoch nicht davon ab, welche Erwartungen man Atatürk stellt, denn er kann nichts mehr richtig oder falsch machen. Die Zustände hängen davon ab, was wir im Heute bewirken, ob Feindschaft oder Frieden. 
 
Grüße von Sven200702   >> www.diskussionen.de 


Seine Verdienste als Offizier bei der Verteidigung der Halbinsel Gallipoli 1915 gegen englische Truppen, die die Dardanellen unter Kontrolle bringen sollten, sowie 1921 im Abwehrkampf gegen die nach Anatolien vordringenden Griechen haben ihn zum Künder und Hauptvertreter türkischen Selbstbehauptungswillens gemacht. Als Machtpolitiker von eigener Art, der die Modernisierung seines Landes nach westlichem Vorbild beharrlich vorantrieb, hat er mit der Abschaffung von Sultanat und Kalifat sowie mit weit reichenden gesellschaftlichen Reformen einen in dieser Form einmaligen Staatstypus geschaffen. Darauf beruht - trotz einiger Schattenseiten seines Wirkens - die personenkultartige Verehrung, die ihm in der Türkei bis heute entgegengebracht wird, und die Unangefochtenheit des ihm auf eigenen Vorschlag 1934 vom türkischen Parlament verliehenen Nachnamens „Atatürk“ (‚Vater der Türken‘).

Herkunft und Jugend

Geboren wurde Mustafa als Sohn der türkischen Eheleute Ali Rıza Efendi und Zübeyde Hanım in Saloniki, das damals ein Teil des Osmanischen Reichs war, zugleich die Heimstatt verschiedener Völker, in der Weltoffenheit herrschte und die Muslime mit Juden und Christen vorwiegend friedlich zusammenlebten. Mustafas Großvater väterlicherseits, Kızıl Hafız Ahmed, zählte zu den Yörük-Türkmenen. Seine Mutter war Tochter einer alteingesessenen bäuerlichen (ursprünglich aus Konya-Karaman stammenden) Familie des Städtchens Langaza (heute Langadas) bei Saloniki. Die Eltern heirateten 1871.

Ali Rıza, der als Zollbeamter auf einem abgelegenen Posten an der makedonischen Grenze seiner Frau und Familie keine auskömmlichen Verhältnisse hatte bieten können, hatte die Stellung nach dem Tod zweier Söhne aufgegeben und sein Glück als Holzhändler in Saloniki versucht. Von fünf Geschwistern Mustafas überlebte nur die Schwester Makbule Atadan die Kindheit. Sein eigenes genaues Geburtsdatum steht nicht fest, so dass er dafür später den 19. Mai wählte, an dem er 1919 mit 38 Jahren in der anatolischen Küstenstadt Samsun landete, um die Kräfte für die Befreiung des Landes von Siegermächten und Sultanat zu sammeln.

Mustafas Aufwachsen war von mehreren Umbrüchen bestimmt, in denen mitunter bereits sein ausgeprägter Eigenwille (Rill, S. 19) und seine Durchsetzungsfähigkeit zur Geltung kamen. Nur wenige Tage besuchte er die von der Mutter gewollte religiöse Schule, vor allem wegen der Aufnahmezeremonie, dann wechselte er mit Unterstützung des Vaters auf eine Privatschule nach westlichem Vorbild. Als er sieben Jahre alt war, starb Ali Rıza. Zübeyde, die ihre beiden verbliebenen Kinder kaum ernähren konnte, zog zu ihrem Bruder aufs Land, wo keinerlei geregelter Schulbesuch möglich war. Nach mehrmonatiger Schulpause wurde Mustafa in die Obhut seiner Tante in Saloniki gegeben, damit er wieder am Unterricht teilnehmen konnte. Schlimme Prügel, verbunden mit blutigen Striemen auf dem Rücken, die er von einem Lehrer bezog, ließen ihn zum wiederholten Schulabbrecher werden. Als Zwölfjähriger bewarb er sich dann heimlich an der militärischen Mittelschule in Saloniki, bestand die Aufnahmeprüfung und setzte seinen Willen anschließend gegen den Widerstand der Mutter durch. Den Beinamen Kemal (arabisch: „vollkommen“) soll ihm nach eigenem Bekunden sein dortiger Mathematiklehrer verliehen haben, dem er mit seinen Fähigkeiten beeindruckte. Die Abschlussprüfung 1895 absolvierte er als Viertbester. Seine Ausbildung setzte er fernab der Familie an der höheren Militärschule im westmazedonischen Manastir (heute Bitola) fort.


Militärische Schulung und politische Anfänge (1896-1905)

An dieser wie an anderen militärischen Ausbildungsstätten des damaligen Osmanischen Reiches gab es starke, westlich orientierte Reformbestrebungen.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts waren Öffnungstendenzen gegenüber dem Westen auch von osmanischen Herrschern gefördert worden, bis hin zu der von Sultan Abdülhamid II. 1876 eingeführten Verfassung nebst Parlament, die er allerdings zwei Jahre später widerrief. Dies war der Ansatzpunkt der jungtürkischen Oppositionsbewegung vor allem an den Militärschulen, an die Mustafa Kemal nun in Manastir Anschluss fand.

Nach wiederum hervorragend bestandener Abschlussprüfung gelangte Mustafa Kemal 1899 als Offiziersanwärter an die Militärakademie in Istanbul. Hier wurde er wegen oppositioneller politischer Umtriebe auffällig, profitierte aber von der Protektion des liberalen Akademiedirektors. Bald nach dem Ende seiner Offiziersausbildung geriet er gleichwohl in die Fänge des Geheimdienstes, musste mehrere Monate im Gefängnis verbringen und kam nur durch die neuerliche Fürsprache des Direktors der Militärakademie wieder auf freien Fuß. Die Geheimdienstakte seiner Verfehlungen verzeichnete nicht nur politische Unbotmäßigkeit, sondern u.a. auch den als unehrenhaft geltenden Umgang mit Prostituierten und eine Alkoholkrankheit (Gronau, S. 54). Der übermäßige Konsum von Rakı, einem hochprozentigen Schnaps, dem der unter Schlafstörungen Leidende zeitlebens zusprach, sollte in der Tat späterhin zu einem lebensverkürzenden gesundheitlichen Problem werden. Wissensdurst und Leistungsfähigkeit Mustafa Kemals waren davon aber – bis auf seine letzten Jahre – anscheinend relativ unbeeinträchtigt.

Die Militärakademie hatte er 1905 als Jahrgangsfünfter beendet und folglich eine glänzende Karriere als Stabsoffizier erwarten lassen. Nun aber wurde er fernab der politischen Brennpunkte auf einen Außenposten in Damaskus abkommandiert, also vorerst kaltgestellt.


Militärische Laufbahn (1906-1919)

Bis er als Reorganisator der türkischen Gesellschaft nach den Niederlagen des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg wirksam werden konnte, hat Mustafa Kemal eine ganze Reihe vergeblicher Anläufe genommen, in eine staatliche Führungsposition zu gelangen. Denn dazu fühlte er sich bereits in jungen Jahren berufen. Dass er daran trotz vieler Rückschläge unbeirrbar festhielt, dass er in allen Lebenslagen zielsicher blieb, auf seine Chancen hinarbeitete, ja sie ein ums andere Mal zu erzwingen suchte, gehört zu den Voraussetzungen seines schließlichen Erfolgs. Die Umwege und Warteschleifen, die seine Frustrationstoleranz gehörig auf die Probe stellten, dienten ihm letztlich nur als Gelegenheiten zu situationsangepasster Selbstschulung und Horizonterweiterung.

In Damaskus kam Mustafa Kemal in Kontakt mit einem jungtürkisch-oppositionell ausgerichteten Beteiligten an einem gescheiterten Attentat auf Sultan Abdülhamid II. Nach Verbüßung einer Gefängnisstrafe war der nach Syrien in die Verbannung geschickt worden und betrieb nun einen Buchladen, u.a. mit verbotenen französischen Schriften. Mit ihm gründete Mustafa Kemal die revolutionäre Geheimorganisation „Vaterland und Freiheit“, für die er in Jerusalem, Jaffa und Beirut weitere Mitglieder anwarb. Ende 1906 gab ihm sein militärischer Vorgesetzter Rückendeckung für eine verdeckte Reise zurück nach Saloniki, wo er vergeblich Zugang zu den führenden Köpfen der jungtürkischen Opposition suchte und eine Zweigstelle seiner Geheimgesellschaft gründete. Der Gefahr, hier als Deserteur entdeckt zu werden, begegnete er durch rechtzeitige Rückreise nach Syrien.

Nach seiner Beförderung zum Hauptmann wurde er im September 1907 nach Mazedonien versetzt. Doch auch das verschaffte ihm nicht den erhofften Eintritt in den Führungszirkel des jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“. So war es der um ein Jahr jüngere jungtürkische Offizier Enver, der den Sultan in einer abenteuerlichen Militäroperation dazu brachte, die Verfassung von 1876 wieder in Kraft zu setzen, und der Mustafa Kemal dann für lange Zeit politisch im Abseits hielt. Seine militärischen Organisations- und Führungsfähigkeiten zu zeigen, bekam Mustafa Kemal gleichwohl Gelegenheit, als er 1909 zum Ausbildungsleiter jener Divisionen berufen wurde, durch deren Einsatz Abdülhamid II. zur Abtretung der Sultanswürde an seinen Bruder Mehmed V. gezwungen wurde, weil er gegen das neugewählte Parlament vorgegangen war.

Italiens imperialistisches Ausgreifen nach Nordafrika 1911 führte zur Entsendung Enver Paschas, der in Tripolis die osmanischen Truppen gegen die Italiener in den Kampf führen sollte. Mustafa Kemal meldete sich freiwillig für diesen Einsatz und wurde gleichfalls beauftragt. Beider Rivalität nahm hier bereits deutliche Züge an. Im Oktober 1912 gab das Osmanische Reich die nordafrikanischen Provinzen verloren, da die Lage auf dem Balkan eine militärische Kräftekonzentration erforderte. Bulgaren und Griechen belagerten Edirne (Adrianopel) und schickten sich an, auch die Reste der osmanischen Herrschaft auf dem europäischen Kontinent zu beseitigen. Als im Streit um die Kriegsbeute dann aber 1913 Bulgaren und Griechen aneinander gerieten, nutzten die jungtürkischen Militärs unter Envers Führung die Gelegenheit zur Rückeroberung Edirnes. Damit hatte Enver sich erneut hervorragend in Szene gesetzt und für eine steile politische Karriere empfohlen: Er wurde umgehend Kriegsminister. Mustafa Kemal wurde vom Generalstab mit der Führung jener Streitkräfte beauftragt, die die Dardanellen und die Halbinsel Gallipoli zu verteidigen hatten, eine vorerst wenig anspruchsvolle Aufgabe.

Im Herbst 1913 wurde er als Militärattaché an die osmanische Botschaft in Sofia versetzt, eine neuerliche politische Kaltstellung, die er mit seinem politischen Weggefährten Ali Fethi teilte, der als Generalsekretär des jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ abgelöst und auf den Botschafterposten in Sofia befördert wurde. Politische Zielkonflikte gegenüber Enver bestanden für Mustafa Kemal vor allem in zweierlei Hinsicht: Während Enver die militärischen Verbindungen zum Deutschen Kaiserreich möglichst eng halten und im Kriegsfall mit den Deutschen gemeinsame Sache machen wollte, lehnte Mustafa Kemal dies ab und strebte die unabhängige Reorganisation der türkischen Armee an. Und während Enver für die Zukunft ein pantürkisches Reich unter Einschluss der Turkvölker Mittelasiens anvisierte, waren Mustafa Kemals nationalstaatliche Vorstellungen von vornherein in etwa an der heutigen Ausdehnung des türkischen Staatsgebiets orientiert. Er nutzte den Zeitraum vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, um sich in Sofia mit diplomatischen Gepflogenheiten und Umgangsformen vertraut zu machen, was ihm später als Staatspräsident sehr zustatten kommen sollte.

Erst nach wiederholten vergeblichen Anfragen zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde ihm im Januar 1915 das Kommando über die auf der Halbinsel Gallipoli stationierte 19. Division der 5. Armee übertragen. Auf diesem Posten vollbrachte er im Abwehrkampf gegen die energisch auf die Herrschaft über die Dardanellen zielenden Alliierten eine unterdessen legendäre militärische Glanztat, die den Rücktritt des mit diesem Unternehmen scheiternden britischen Kriegsministers Winston Churchill bewirkte. Premierminister Lloyd George, der Churchills Plan unterstützt hatte, sah sich zu der Erklärung veranlasst: „Wie sollte ich wissen, dass unseren Armeen ein Soldat gegenüberstand, wie ihn die Geschichte alle Jahrhunderte nur einmal hervorbringt?“ Von seinem obersten militärischen Vorgesetzten Enver Pascha wurde Mustafa Kemal aber auch hiernach gezielt missachtet, so dass er bereits ein Abschiedsgesuch auf den Weg brachte. Nur durch Vermittlung des deutschen Oberbefehlshabers der 5. Armee, General Liman von Sanders, der sich mahnend an Enver wandte, verblieb Mustafa Kemal im Dienst.

Im Januar 1916 versetzte man ihn nach Edirne, Ende Februar 1916 mitsamt seinen Einheiten zur Verstärkung der 3. Armee an die anatolische Ostfront. Für seine Verdienste bei der Verteidigung Gallipolis erhielt er nachträglich die Beförderung zum General, verbunden mit dem Ehrentitel Pascha. Die Russische Revolution 1917 führte zur Beruhigung der militärischen Lage im Osten, was Enver zu neuen offensiven Vorstößen gegen die Engländer in Mesopotamien und Ägypten inspirierte, während Mustafa Kemal die Konzentration auf die Verteidigung der anatolischen Kernlande für nötig hielt und sich Envers Plänen offen widersetzte. Dafür hat man ihn – vorgeblich wegen Krankheit – vom Dienst beurlaubt.

Zur Jahreswende 1917/18 wurde der Sieger von Gallipoli für einen Besuch des Kronprinzen Vahdettin bei Kaiser Wilhelm II. (Deutsches Reich) im deutschen militärischen Hauptquartier in Spa als Militärattaché und persönlicher Adjutant bestimmt. Die Unabhängigkeit seines Urteils hat er auch bei dieser Gelegenheit schonungslos zu erkennen gegeben. Nach dem Besuch der Westfront zu seiner Einschätzung befragt, äußerte er gegenüber Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg: „Der Krieg ist bereits verloren.“ Allerdings gelang es ihm trotz mehrerer Vorstöße nicht, Kronprinz Vahdettin für seine Vorstellungen und Machtambitionen in der Führung des Osmanischen Reiches zu gewinnen. Dies zeigte sich endgültig, als im Juni 1918 Vahdettin tatsächlich die Thronfolge antrat und Mustafa Kemal zum Armeekommandanten für die Verteidigung Syriens gegen die Briten machte, ein aus dessen Sicht aussichtsloses Unternehmen, das dann auch nur auf einen geordneten Rückzug hinauslief.

Anfang Oktober 1918 gaben Enver und seine Regierungsvertrauten auf und flüchteten sich außer Landes. Doch auch jetzt noch verweigerte man Mustafa Kemal Pascha das von ihm angestrebte Kriegsministerium. Angesichts der nach dem Waffenstillstand am 30. Oktober beginnenden alliierten Besatzungspolitik empfahl er demobilisierten Truppen, sich zu Guerillaverbänden im Inneren Anatoliens zu formieren und für einen künftigen Befreiungskampf bereitzuhalten. Unterdessen geriet Mustafa Kemal nach einer neuerlichen Parlamentsauflösung durch Sultan Mehmet VI. Vahdettin selbst in Gefahr, als potentieller Oppositioneller unschädlich gemacht zu werden. Seine prekäre Lage klärte sich auf unverhoffte Weise, als er zur Befriedung von Unruhen zwischen Griechen und Türken an der Schwarzmeerküste im Mai 1919 zum Generalinspekteur ernannt und nach Ostanatolien entsandt wurde, wo mit Kazım Karabekır und Ali Fuat zwei Heerführer mit ihren Truppen bereitstanden, sich seiner Führung unterzuordnen.


Freiheitskämpfer und Republikgründer (1919-1924)

Am 15. Mai 1919, unmittelbar vor Mustafa Kemals Einschiffung nach Samsun, hatte die von der britischen Regierung unterstützte griechische Invasion in Smyrna, heute Izmir, begonnen, die dann in eine östliche Expansionsbewegung griechischer Truppen überging und von der Regierung in Konstantinopel nicht verhindert werden konnte. Auf diese Lage bezog sich der Generalinspekteur, als er sich umgehend daran machte, den Widerstand gegen die Besatzungsmächte zu organisieren, und den Telegrammen aus Konstantinopel, die seine Rückberufung anordneten, keinerlei Folge mehr leistete. Auf seine Entlassung reagierte er mit dem Ablegen der Uniform und mit der Einberufung einer unabhängigen Volksvertretung in Sivas, die ihn zu ihrem Vorsitzenden machte und zu dem des Nationalkomitees, einer gegen den Sultan und die Alliierten gerichteten Gegenregierung. Seit der Jahreswende 1919/20 nahm diese ihren Sitz in Ankara, das nun nach und nach zur neuen türkischen Hauptstadt ausgebaut wurde. Den von der Regierung in Konstantinopel im Mai 1919 angenommenen Friedensvertrag von Sèvres, der eine weitgehende Kontrolle der Alliierten (Briten, Franzosen, Griechen und Italiener) über einen osmanischen Reststaat festschrieb, lehnte die Große Nationalversammlung in Ankara empört ab und erklärte die Unterzeichner zu Verrätern.

Im Januar 1921 errangen die Truppen der Befreiungsarmee unter İsmet Pascha bei İnönü einen ersten großen Sieg über die Griechen, dem ebenda im März 1921 ein zweiter folgte. Angesicht nochmaliger griechischer Truppenverstärkungen ordnete Mustafa Kemal danach einen vorläufigen taktischen Rückzug an und ließ sich in Vorbereitung des Entscheidungskampfes mit unbegrenzten Vollmachten als militärischer Oberbefehlshaber ausstatten. Mit einem die Griechen überraschenden Konzept flexibler Flächenverteidigung – statt eines starren Stellungskriegs – gelang es ihm am Sakarya-Fluss im August 1921 die Gegner erneut zurückzuschlagen. Dafür verlieh ihm die Nationalversammlung in Ankara den ehedem einem Sultan vorbehaltenen Ehrentitel Gazi.


Noch waren die Griechen aber nicht endgültig geschlagen. Erst nach einem weiteren Jahr des Kräftesammelns gelang es Gazi Mustafa Kemal mit einem Überraschungsangriff bei Dumlupınar am 26. August 1922, seinen Triumph zu vollenden und die griechischen Truppen vernichtend in die Flucht außer Landes zu schlagen. Der Vertrag von Sèvres war damit zugleich hinfällig und wurde nach Verhandlungen mit der nun von den Alliierten anerkannten Regierung in Ankara 1923 durch den Vertrag von Lausanne ersetzt, der bis auf die Meerengen die Souveränität der Türkei in den heute bestehenden Grenzen herstellte. In der Folge mussten eineinhalb Millionen Griechen Kleinasien verlassen und eine halbe Million Türken aus Griechenland in die Türkei umsiedeln.

Mit seiner auf den eigenen Machterhalt gerichteten nachgiebigen Haltung gegenüber den Alliierten hatte Sultan Mehmet VI. Vahdettin sich selbst und seine Stellung nachhaltig diskreditiert. Die von Mustafa Kemal im November 1922 energisch betriebene Abschaffung des Sultanats stieß deshalb zunächst kaum auf Widerstand. Und am 29. Oktober 1923 wurde durch eine große Verfassungsänderung die Republik der Türkei (offizieller Name) gegründet, geleitet von einem Präsidenten als Regierungsspitze und alleinigen Inhaber der Exekutive, ein Amt, das auf Anspruch und Stellung des Gazi Mustafa Kemal zugeschnitten war.

Nicht nur in ihren Anfängen, sondern bis heute ist die Republik Türkei mit seiner Person und seinem Namen engstens verknüpft. Seine politischen Leitlinien, die Prinzipien des Kemalismus, werden weiterhin hochgehalten. Es sind dies: Republikanismus im Sinne von Volkssouveränität, Nationalismus als Wendung gegen den Vielvölkerstaat des osmanischen Zuschnitts, Populismus als Ausdruck einer auf die Interessen des Volkes, nicht einer Klasse gerichteten Politik, Revolutionismus im Sinne einer stetigen Fortführung von Reformen, Laizismus, d.h. Trennung von Staat und Religion, und Etatismus mit partieller staatlicher Wirtschaftslenkung.

Zur Absicherung der neuen Staatsordnung und zur Durchsetzung des Leitbilds einer laizistischen Republik musste aber nicht nur mit dem Sultanat der Osmanen gebrochen werden, sondern auch mit dem Kalifat. Als Kalifen waren die osmanischen Herrscher „Nachfolger des Gesandten Gottes“ und damit auch die religiösen Oberhäupter aller Muslime. Um bei der Republik-Gründung nicht die geballte Opposition der Strenggläubigen hervorzurufen, hatte Mustafa Kemal, als er den Sultan ins Exil zwang, die Würde des Kalifen zunächst dessen Cousin übertragen lassen. 1924 schien ihm dann der Zeitpunkt gekommen, auch diesen Sammelpunkt von Anhängern der alten Ordnung zu beseitigen. Am 3. März beschloss die Nationalversammlung die Abschaffung des Kalifenamts, am Tag darauf mussten alle Angehörigen der Familie Osman die Türkei verlassen. In der Folge wurden die Derwischklöster und die religiösen Gerichtshöfe geschlossen, Religionsschulen für Geistliche und Richter aufgelöst; die allgemeine Schulpflicht wurde eingeführt und alle Schulen einem Erziehungsministerium unterstellt.

Gesellschaftsreformer und Erziehungsdiktator (1924-1938)

Der Bruch mit den jahrhundertealten Strukturen und Institutionen des Osmanischen Reiches blieb ein Wagnis, das Widerstand hervorrief. Einige der wichtigen Mitstreiter aus den Anfängen des Befreiungskrieges, darunter Kazım Karabekır und Ali Fuat, trennten sich von der Volkspartei des Präsidenten, dem sie ein allzu selbstherrliches Agieren vorhielten, und gründeten im November 1924 die oppositionelle „Fortschrittspartei“. Diese machte sich u.a. den Respekt von Gewissensfreiheit und religiösen Gefühlen zum Programm und gewann Unterstützung unter den Anhängern der Scharia. Zur ernsten Herausforderung der jungen Republik und ihres Präsidenten wurde diese Entwicklung, als im Februar 1925 in Südostanatolien ein Kurdenaufstand ausbrach, dessen geistiger Führer, Scheich Said, die Rückkehr zu Sultanat und Kalifat propagierte. Mit aller Härte und Brutalität wurde diese Erhebung militärisch niedergeschlagen und dabei das Ziel verfolgt, die kurdische Opposition weitestmöglich auszulöschen. (siehe: Scheich-Said-Aufstand). Im Juni erging ein Verbot der Fortschrittspartei; Notstandsgesetze, Pressezensur und Justizapparat wurden gegen Opponenten in Stellung gebracht. Ein 1926 in Izmir aufgedecktes Mordkomplott dreier Verschwörer gegen den Präsidenten wurde von Mustafa Kemal als Gelegenheit genutzt, mit den Häuptern der Opposition als vermeintlichen Drahtziehern des geplanten Anschlags im Rahmen eines Schauprozesses vor dem „Freiheitsgericht“ abzurechnen. Die Republik nahm Züge einer Diktatur an, obwohl Mustafa Kemal nicht danach strebte.

Seine gebieterische und rastlos vorwärts drängende Natur war dem Leitbild eines modernen republikanischen Staatswesens nach westlichem Orientierungsmuster verpflichtet. Schon in einer Tagebuchaufzeichnung vom 6. Juni 1918 hatte er das Grundmotiv aller späteren Reformschritte formuliert:

Sollte ich eines Tages großen Einfluß oder Macht besitzen, halte ich es für das Beste, unsere Gesellschaft schlagartig – sofort und in kürzester Zeit – zu verändern. Denn im Gegensatz zu anderen glaube ich nicht, daß sich diese Veränderung erreichen läßt, indem die Ungebildeten nur schrittweise auf ein höheres Niveau geführt werden. Mein Innerstes sträubt sich gegen eine solche Auffassung. Aus welchem Grund sollte ich mich auf den niedrigeren Stand der allgemeinen Bevölkerung zurückbegeben, nachdem ich viele Jahre lang ausgebildet worden bin, Zivilisations- und Sozialgeschichte studiert und in allen Phasen meines Lebens Befriedigung durch Freiheit erfahren habe? Ich werde dafür sorgen, daß sie auch dahin kommen. Nicht ich darf mich ihnen, sondern sie müssen sich mir annähern. (zitiert nach Grohnau, S. 125f.)

Dieses Programm hat er tatsächlich Zug um Zug verwirklicht, sobald er als Stratege im Befreiungskampf des türkischen Volkes gesiegt und in der Funktion des Staatspräsidenten die erstrebte Schlüsselposition innehatte. Es war eine Vielzahl tiefer Einschnitte in Tradition und Gewohnheiten, die er seinen Landsleuten binnen weniger Jahre vorgab.

Auf die Abschaffung des Kalifats ließ er ein äußeres Zeichen prowestlicher Säkularisierung folgen, indem er den Hut als männliche Kopfbedeckung propagierte anstelle des für das ganze Osmanische Reich typischen Fes'. Am 2. September 1925 wurde das Tragen religiöser Trachten wie Pluderhosen und Turbane verboten. Ausgenommen waren nur islamische Geistliche bei der Verrichtung ihres Amtes in der Moschee oder bei Beerdigungen. Wer fernerhin in der Öffentlichkeit mit Fes angetroffen wurde, riskierte eine Gefängnisstrafe. In Ostanatolien erhob sich gegen die Hutrevolution teilweise erbitterter Widerstand, der mit Verhängung des Ausnahmezustands, scharfen Polizeimaßnahmen und Verhaftungen beantwortet wurde. Von sogenannten Freiheitsgerichten wurden in diesem Zusammenhang sogar 138 Todesurteile ausgesprochen. (Gülbeyaz, S.187)

Eine Umwälzung gesellschaftlicher Strukturen bedeuteten die von Mustafa Kemal eingeleiteten Schritte zur Frauenemanzipation, die in einer Neuordnung des ehelichen Scheidungsrechts, in der rechtlichen Gleichstellung von Mann und Frau, in der Förderung einer höheren Schulbildung und im Universitätszugang auch für Mädchen und Frauen zum Ausdruck kam. Wie bei seinem Reformwerk nahezu durchgängig ist Mustafa Kemal auch hier mit eigenem Beispiel vorangegangen. Als der langjährige Junggeselle schließlich heiratete, war es Latife, eine von Selbstbewusstsein und starkem westlichen Einfluss geprägte Frau, deren emanzipiertes Auftreten ihm imponierte. Die Trauung am 29. Januar 1923 fand ohne religiöse Zeremonie statt und wurde vollzogen vom Bürgermeister von Izmir, wobei Mustafa Kemal die Gelegenheit nutzte zu verkünden, dass alle künftigen Eheschließungen in der Türkei ebenfalls von Vertretern des Staates durchzuführen seien. In der Ehe wie in der Öffentlichkeit konnte Latife eigene Standpunkte vertreten und so zu einer Modernisierung des Frauenbilds in der Türkei beitragen. Dabei zeigte sich allerdings auch, dass Mustafa Kemal mit seinen Staatsgeschäften und nächtlichen Diskussionsrunden zu sehr befasst war, um der jungen Frau ein ihren Wünschen entsprechendes Eheleben zu bieten. Als ihre Kritik nach zweieinhalbjähriger Ehe das für ihn tolerierbare Maß überstieg, betrieb er die Trennung und Scheidung. Späterhin hat er das Ziel der Frauenemanzipation im eigenen Einflussbereich bei der Förderung von ihm adoptierter Mädchen und junger Frauen noch einmal erfolgreich zur Geltung gebracht.

Wie die türkische Tageszeitung „Hürriyet“ die armenische Zeitung „Agos“ 2004 zitierte, ist die Adoptivtocher des Staatsgründers, Sabiha Gökçen, vielleicht eine Waise armenischer Genozidopfer gewesen. Sabiha Gökçen wurde später die erste Kampfpilotin der Welt. Die Ausbildung seiner Adoptivtochter zur Flugzeugführerin hatte vielschichtige Gründe. Einerseits konnte er damit seinen Landsleuten das Lehrmuster einer modernen türkischen Frau zeigen, der gleichberechtigt jede Berufswahl offensteht. Andererseits setzte er Gökçen in ihrer Funktion als Militärpilotin für die nationalistische Propaganda der noch jungen türkischen Republik ein.

Von grundlegender gesamtgesellschaftlicher Bedeutung war die Einführung des Frauenwahlrechts. Seit 1930 konnten Frauen an Kommunalwahlen teilnehmen, seit 1934 auch an den Parlamentswahlen.

Es ist charakteristisch für seine Arbeits- und Vorgehensweise, dass Mustafa Kemal die Reformvorstellungen, die er in groben Zügen bereits früh entwickelt hatte, einem Kreis ausgewählter Berater und Sachkundiger bei spätabendlichen Tischgesellschaften vorstellte, für die er jeweils eine spezielle Liste der Einzuladenden ausgab. Offene Kritik ertrug er schlecht und duldete sie kaum; aber ohne den Rat und die Ideen von Sachkennern gehört zu haben, machte er sich auch nicht an die politische Umsetzung seiner Projekte.

Ende 1925 wurde die islamische Zeitrechnung durch den Gregorianischen Kalender mit der Zählung ab Christi Geburt ersetzt. 10 Jahre später trat dann der Sonntag als arbeitsfreier Tag an die Stelle des den Muslimen heiligen Freitags. Außerdem wurde das metrische System eingeführt. Die am Koran orientierte Rechtsprechung wurde durch das schweizer Zivilrecht (Zivilgesetzbuch, Obligationenrecht, Bundesgesetz über Schuldbeitreibung und Konkurs), welches mit nur unbedeutenden Anpassungen übernommen wurde, abgelöst. Die Rechtsübernahme schloss auch das moderne Erbschaftsrecht und Familienrecht des ZGB mit ein. Daneben wurden das deutsche Handelsrecht und das italienische Strafrecht übernommen. Eine Reform des Steuerrechts begünstigte die Industrialisierung, benachteiligte dagegen die Landwirtschaft.

Als Amtssprache wurde die osmanische Hochsprache der bisherigen Eliten, die stark von der höfischen Sprache Persisch und von der heiligen Sprache Arabisch beeinflusst war, in einem von Sprachwissenschaftlern begleiteten Prozess durch die türkische Volkssprache abgelöst. Bis 1928 wurden die osmanischen Sprachen in der arabischen Schrift notiert, was seinen Grund in der islamischen Tradition hatte. Mustafa Kemal ließ die arabische Schrift durch das lateinische Alphabet ersetzen, das der türkischen Sprache besser entspricht als das arabische. Die türkische Sprache enthält acht Vokale, im Gegensatz zum Arabischen mit drei Vokalen, weshalb sich die arabische Schrift denkbar schlecht für die Niederschrift des Türkischen eignet. Außerdem lässt es sich mit deutlich weniger Zeitaufwand erlernen (Rill, S.100) und verstärkte die durch Atatürk angestrebte Westorientierung. Auch auf diesem Feld legte Mustafa Kemal persönlich Hand an, indem er mit Tafel und Kreide umherreisend Unterricht erteilte. Den Koran ließ er ins Türkische übertragen und las im Dolmabahçe-Palast als erster aus der Übersetzung vor. Die Idee jedoch, dass in den Moscheen statt auf Arabisch nur noch auf Türkisch gebetet werden sollte, erwies sich als undurchführbar und wurde zurückgenommen.

Vater der Türken (seit 1934)

Am Ende des umfänglichen und durchgreifenden Reformprozesses stand eine Änderung des Namensrechts, das zu einer effektiveren Verwaltung des Personenstandswesens führen sollte und wiederum an westliche Muster anknüpfte: Jedem Bürger der Türkei wurde ein Nachname zugeordnet. Mustafa Kemal selbst ließ sich von der Nationalversammlung den Namen Atatürk (Vater der Türken) als Nachnamen zuschreiben. Auch für einige Vertraute und Weggefährten suchte er die künftigen ehrenden Nachnamen aus, so auch für Ismet Pascha, der wegen seiner Verdienste im Befreiungskrieg gegen die Griechen nach dem Ort seiner beiden großen Schlachtenerfolge den Nachnamen İnönü erhielt. İsmet İnönü hat als Ministerpräsident über viele Jahre Mustafa Kemal Atatürk von der alltäglichen Regierungsroutine entlastet und wurde nach dessen Tod sein Nachfolger als Staatspräsident.

Atatürks Namenswahl und die Ehrenbezeugungen, die der Staatsgründer der türkischen Republik auf sich vereinte (1926 wurde in Konya ein erstes Denkmal errichtet, dem ungezählte weitere im ganzen Lande folgten, s.u.), entsprachen den zeittypischen Formen des Personenkults in autoritären Regimen, haben aber zugleich eine bis heute fortwirkende integrierende Wirkung für das türkische Staatswesen entfaltet. Atatürk hat mit seiner Person als Freiheitskämpfer, Staatspräsident und oberster Lehrer der Nation das Vakuum gefüllt, das mit der Abschaffung von Sultanat und Kalifat sowie mit der erzwungenen Abkehr von herkömmlichem Brauchtum zum Zwecke der Modernisierung einherging. Er hat es zweifellos auch als seine Aufgabe angesehen, seinem nach der Kriegsniederlage in gänzlich neuem staatlichen Rahmen zu organisierenden Volk das nötige Selbstbewusstsein und einen Stolz zurückzugeben, ohne die es wohl kaum einen annähernd stabilen neuen Staatsverband hätte bilden können. Er ist dabei sehr weit gegangen, nicht nur, indem er die Wurzeln des Türkentums in Mittelasien bis auf Attila und Dschingis Khan in glorifizierender Absicht zurückgeführt hat, sondern vor allem, indem er die Lehrmeinung hat verbreiten lassen, die Türken seien das älteste Volk der Welt, von dem die anderen Völker direkt oder indirekt abstammten (vgl. Gülbeyaz, S. 199).


Außenpolitisches Wirken

Atatürks Nationalismus war nach innen gerichtet, bezog sich auf die Türkei und ihre Bevölkerung und beinhaltete nach außen keine aggressive Komponente. Nationale Minderheiten wie Kurden und Armenier, soweit sie noch im Lande siedelten, wurden allerdings in ihrem sprachlichen und kulturellen Eigenleben unterdrückt und im Widerstandsfall mit militärischen Mitteln rücksichtslos bekämpft. 1915 kam es auf Grund des Krieges im Osmanischen Reich zu Massendeportationen an den Armeniern. Das international als Völkermord anerkannte Ereignis steht jedoch in keinem Zusammenhang zu Atatürk. Diverse Zitate und Aussagen, aus denen die angebliche Beteiligung Atatürks an den Massendeportationen hervorging, wurden bis heute nicht bewiesen. Atatürk lehnte eine pantürkisch motivierte imperialistische Expansion im Gegensatz zu seinem früheren Rivalen Enver Pascha konsequent ab. Aus der an globalen Zusammenhängen geschulten Sicht des 21. Jahrhunderts nimmt sich seine außenpolitische Standortbestimmung geradezu visionär aus:

Heute sind alle Nationen der Erde fast Verwandte geworden oder bemühen sich, es noch zu werden. Infolgedessen muß der Mensch nicht nur an die Existenz und das Glück derjenigen Nation denken, der er angehört, sondern auch an das Vorhandensein und Wohlbefinden aller Nationen der Welt... Wir wissen nicht, ob uns nicht ein Ereignis, das wir weit entfernt glauben, eines Tages erreicht. Aus diesem Grund muß man die gesamte Menschheit als einen Körper und eine Nation als sein Glied betrachten. (zitiert nach Rill, S.118)

1932 trat die Türkei dem Völkerbund bei, 1936 wurde ihr die im Vertrag von Lausanne noch vorenthaltene Souveränität über die Meerengen von Bosporus und Dardanellen und die diesbezügliche Kontrolle der Schifffahrt durch das Abkommen von Montreux zugestanden. Zu Griechenland konnte schon von 1930 an ein gutnachbarliches Verhältnis hergestellt werden, und beim Balkanpakt 1934 in Athen war es vor allem Atatürks multilateralen Ausgleichsbemühungen zuzuschreiben, dass ein die Türkei, Griechenland, Jugoslawien und Rumänien zusammenführendes Vertragswerk geschlossen werden konnte. In demselben Jahr schlug der griechische Premierminister Venizelos – wenn auch erfolglos – Mustafa Kemal Atatürk für den Friedensnobelpreis vor.

Zu den faschistischen Diktatoren Mussolini und Hitler hielt Atatürk unmissverständlich Abstand und hieß eine Vielzahl zu Beginn der NS-Herrschaft ins Exil flüchtender Wissenschaftler, Künstler und Architekten in der Türkei willkommen, die ihre Mitwirkung bei der Modernisierung des Landes und beim Aufbau des türkischen Hochschulwesens gut gebrauchen konnte. Für manche von ihnen wurden die Universitäten von Ankara und Istanbul zu neuen Wirkungsstätten. Unter denen, die in der Türkei eine Zuflucht fanden, waren z.B. der spätere Berliner Regierende Bürgermeister Ernst Reuter und der Architekt Bruno Taut, der 1938 den Katafalk zur Trauerfeier für den verstorbenen Atatürk entwerfen sollte.

Ambivalent war das Verhältnis Atatürks zur benachbarten Großmacht UdSSR. Beide Staaten konnten einander nach dem Ersten Weltkrieg in dem Bemühen unterstützen, die internationale Isolierung durch die Siegermächte zu überwinden. Auch die von sowjetischer Seite dem jungen türkischen Staat gewährten Aufbauhilfen in begrenztem Umfang hat Atatürk gern entgegengenommen. Von der kommunistischen Ideologie und dem sowjetischen Gesellschaftsmodell jedoch hat er sich deutlich distanziert.

Bereits im Oktober 1933, beim Festakt zum 10-jährigen Jubiläum der Republik Türkei, sah Atatürk einen möglichen neuen Krieg in Europa voraus und legte sein Land für diesen Fall auf einen Kurs der Neutralität fest (Gülbeyaz, S. 211). Dem amerikanischen General Douglas MacArthur, der zur Manöverbeobachtung Anfang der 1930er Jahre die Türkei aufsuchte, gab er folgende Prophezeiung mit auf den Weg, die allerdings erst 1951 veröffentlicht wurde:

Meiner Meinung nach wird das Schicksal Europas wie gestern auch morgen von der Haltung Deutschlands abhängig sein. Diese außergewöhnlich dynamische und disziplinierte Nation von 70 Millionen wird, sobald sie sich einer politischen Strömung hingibt, die ihre nationalen Begierden aufpeitscht, früher oder später den Vertrag von Versailles zu beseitigen suchen. Deutschland wird in kürzester Zeit eine Armee aufstellen können, die imstande sein wird, ganz Europa, mit Ausnahme von England und Russland, zu besetzen... der Krieg wird in den Jahren 1940/45 ausbrechen... Frankreich hat keine Möglichkeit mehr, eine starke Armee aufzustellen. England kann sich bei der Verteidigung seiner Insel nicht mehr auf Frankreich verlassen. Amerika wird in diesem Krieg genau wie im Ersten Weltkrieg nicht neutral bleiben können. Und Deutschland wird wegen des amerikanischen Kriegseintritts diesen Krieg verlieren... (zit.n. Rill, S. 124) 

Würdigung, Kritik und Nachwirken

Nicht nur in der Türkei, wo noch heute jede herabsetzende Äußerung über den Staatsgründer unter Strafe steht, wurde und wird Mustafa Kemal Atatürk für seine Lebensleistung Respekt gezollt und ein ehrendes Andenken bewahrt. Die Spanne seiner Bewunderer reicht u.a. vom bereits zitierten britischen Premierminister Lloyd George, dem Gegner im Ersten Weltkrieg, über den Führer des Nazi-Regimes Adolf Hitler, der ihn mit rassistischer Begründung – seiner blauen Augen wegen – gern an seiner Seite gesehen hätte (vgl. Rill, S.147), bis zu den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt und John F. Kennedy, der ihn zum 25. Todestag 1963 mit den Worten würdigte:

Der Name „Atatürk“ erinnert mich an die historischen Siege eines der größten Männer dieses Jahrhunderts, an seine schöpferische Fähigkeit zu regieren, an seine Weitsicht, an seinen großen Mut und an sein Können als Soldat. (zit.n. Gülbeyaz, S. 228)

Atatürks Weitsicht resultierte aus einer ungewöhnlichen analytischen Fähigkeit in militärischer und politischer Hinsicht. Seine Erfolge beruhten darüber hinaus auf Organisationstalent, Beharrlichkeit, dem Gespür für den jeweils geeigneten Moment zur Umsetzung seiner Pläne und auf einem anscheinend unerschütterlichen Vertrauen in die eigene Berufung. Zwischen dem Ausbildungsende an der Militärakademie 1905 und dem Beginn des Befreiungskampfes 1919 konnte es lange Jahre so scheinen, als stände er sich selbst im Wege mit der Schroffheit, in der er auf der eigenen Linie beharrte. Mehrfach hat er in dieser Zeit wegen eines vermeintlichen Mangels an Geschmeidigkeit im zwischenmenschlichen Umgang Aufstiegschancen und Einflussmöglichkeiten verpasst. Letztlich hat er damit aber vor allem einen langen Atem bewiesen. Er hielt sich auf seiner Bahn und konnte abschätzen, welche Nebengleise und Vereinnahmungsversuche er meiden musste, um doch noch an sein Ziel gelangen zu können: Er selbst wollte den Türken den Weg in die Zukunft weisen.

Nicht in allen Bereichen ist ihm das zu Lebzeiten überzeugend gelungen. Kläglich gescheitert ist z.B. 1930 sein Versuch, die Monopolstellung seiner Republikanischen Volkspartei mit Hilfe einer selbst initiierten Oppositionspartei zu relativieren und so das politische System zu demokratisieren. Der Zulauf der Reformgegner zu der von einem Vertrauten Atatürks, Ali Fethi, gegründeten Liberalen Partei war so massiv, dass die Partei nach nur dreimonatigem Bestehen wieder aufgelöst wurde. Eine demokratische Kultur konnte unter diesen Voraussetzungen kaum entstehen, und so blieb das Heer, aus dessen Reihen Mustafa Kemal aufgestiegen war und das er seit den Befreiungskriegen auf sich verpflichtet hatte, auch in den Wechselfällen der politischen Entwicklung nach dem Tode Atatürks – und während des ganzen 20. Jahrhunderts – die autoritäre Garantiemacht des Kemalismus, insbesondere gegenüber islamistischen Tendenzen. Diese noch immer bestehende Sonderstellung der Armee in der Republik Türkei gehört zu dem von Atatürk hinterlassenen politischen Erbe, auch wenn unterdessen längst ein plurales Parteiensystem existiert und Regierungswechsel nach Wahlen häufig stattgefunden haben.

Zu einem Vorbild, das zur Nachahmung anspornte, wurde Atatürk vor allem in Staaten der sogenannten Dritten Welt, die - wie 1944 Indiens nachmaliger Ministerpräsident Jawaharlal Nehru - in ihm den Vorkämpfer der Unabhängigkeit von den Kolonialmächten verehrten (vgl. Rill, S.146). Noch 1981 - im Jahre seiner Ermordung durch radikale Moslems – bekannte der ägyptische Staatspräsident Anwar as-Sadat:

Er war die Quelle des Lichts für jedes Land, das sich gegen den Imperialismus auflehnte und für die Freiheit kämpfte. Schließlich haben auch wir, die jungen Offiziere der ägyptischen Revolution, unsere Revolution gemacht, indem wir Atatürk genau gelesen und verstanden haben. Er wurde uns zum Wegweiser. (zit.n. Gülbeyaz, S. 228)

Als Mustafa Kemal Atatürk am 10. November 1938 in Dolmabahçe in Istanbul an den Folgen einer Leberzirrhose starb, hinterließ er ein Land, das einerseits von seinem autoritären Führungsstil und von seiner mitunter demonstrativen Härte bei der Ausschaltung politischer Gegner geprägt war, das sich andererseits aber westlicher Lebensart und aufklärerischem politischen Denken weit geöffnet hatte und sich anschickte, zu einem Brückenstaat zwischen islamischer und christlich-abendländischer Zivilisation zu werden.

Wie Atatürk sich unter heutigen Voraussetzungen zu einer EU-Mitgliedschaft der Türkei gestellt hätte, darüber kann nur spekuliert werden. Dafür aber, dass eine solche Mitgliedschaft beiderseits überhaupt in Betracht gezogen werden kann, war sein Lebenswerk die unabdingbare Voraussetzung.

Gedenkstätten und Denkmäler

Das Gedenken an Mustafa Kemal Atatürk ist in der Türkei sehr stark ausgeprägt. Sein Leichnam wurde nach Ankara gebracht und 1953 in dem eigens dafür geschaffenen Mausoleum „Anıtkabir“ zur letzten Ruhe gebettet. Noch heute erweisen ihm junge Brautpaare dort ihre Referenz. Zum Todestag Mustafa Kemals wird in der Türkei eine Trauerminute eingelegt, zu der landesweit Sirenen erklingen. Sein Abbild findet sich auf sämtlichen Münzen und Geldscheinen der türkischen Währung. In vielen türkischen Städten stehen mehrere Atatürk-Statuen an verschiedenen öffentlichen Plätzen und Parks. Daneben befinden sich in fast allen öffentlichen Gebäuden Büsten von Atatürk, und einige Einrichtungen tragen seinen Namen (z. B. der Atatürk-Staudamm). Der Internationale Flughafen Istanbuls (IST) wurde nach ihm „Atatürk Havalimani“ benannt. (Zusätzlich gibt es noch den Flughafen Istanbul (Sabiha Gökçen), benannt nach seiner Adoptivtochter.) Und das Stadion von Istanbul heißt nach ihm „Atatürk Olimpiyat Stadi“.

Quelle u. mehr >> Wikipedia (Stand 20070209)

>> Osmanismus

Türkei   Kurden   Biographien   Dialog-Lexikon