ich unterstellte jemandem, er habe das "typische Expertenproblem".
ich sagte, dass er sicherlich 100-fach mehr wisse als der
"Durchschnittsgadsche", aber trotz all der Theorie schlecht damit zurechtkomme, dass ihm Sinti und Roma die PRAXIS voraus haben und ihm das "Expertentum" absprechen, aber dass sie sich gegenseitig brauchen.
Der Gemeinte stellte sich überdies selbst nicht als "Experte" hin. Es war meine in diesem Kontext wenig maßgebliche Interpretation.
Hallo!!! ich sage "wenig maßgeblich" und ich sage selten anderes als ich denke, es sei denn aus Höflichkeit,
von deren Sinn ich dennoch überzeugt bin, weil mich die Höflichkeit erzieht
und Türen öffnet.
Meine "Expertenkritik" wurde zwar falsch verstanden, aber provozierte JULI zur
diskussionswürdigen Aussagen gegen nichtzigeunerische Zigeunerexperten, da diese niemals so viel wissen könnten wie die Zigeuner selbst.
Auch Tigny-Tschai vertritt diese Position.
Ich sehe das anders:
1. Der "Zigeunerexperte" braucht kein Zigeuner sein.
Der Deutschenexperte braucht kein Deutscher zu sein.
Der Pferdeexperte braucht kein Heu zu fressen.
2. Die Experten sind dazu da, dass sie "Wissen über" vermitteln.
3. "Experten" bauen viel Mist, aber ohne sie mag kein kluger Mensch auskommen.
Die klügsten Aussagen über das deutsche Volk vernahm ich übrigens nicht von
Deutschen, sondern von außen.
Sicherlich kenne ich die bayrische Weißwurst und deutsches Recht besser als meine europäischen Freunde, aber ihre Beobachtung geht andere Wege als meine, ist in vielem objektiver, gerade auch, weil es ihnen an Verantwortung für das Treiben der Deutschen fehlt.
Mit dem eigenen Volkshaufen geht es vielen Menschen so, wie mit den eigenen Kindern: man betrachtet sie anders als fremde
Kinder: man sieht sie in der Verklärung der selbst eingebrachten Momente (=auch oft nur eine naive Hoffnung :-)) Man sieht die eigenen Kinder hervorgehoben, im Guten wie im Schlechten.
Und alles ist falsch, denn sie fallen dem Neutralen in der Masse kaum auf.
Wie mit den Menschen ist es auch mit den Völkern: sie sind alle "besonders" und das ist ihnen "gemeinsam".
Mit jederlei Anmaßung macht sich ein Volk den anderen gegenüber lächerlich oder zum Verbrecher.
Auch das zeigt sich dem Historiker wie dem Ethnologen, also dem unrecht gescholtenem "Experten":
- die Völker sind sich moralisch gleich. Die Kleinen verhalten sich anders
als die Großen, weil sie klein sind, nicht weil sie schlechter oder besser
wären,
- wahre Moralität beweist sich im Unterschied von Können und Tun. Anderenfalls
ist Moralität kaum mehr als das Vertrauen darauf.
- die Völker unterscheiden sich zumeist nur in ihren Mythen moralisch von einander.
Bevor die Indianer Opfer der Weißen wurden, hatten sie ihre Opfer in anderen Stämmen. Kriegszeiten und Friedenszeiten.
- Alles in periodischer Bestialität. Wenn es anders war, so sollten
wir es beweisen und herausfinden, woran es lag, damit wir lernen können.
- Alle Verbrechen sind singulär und doch vergleichbar gerade in ihrer Übertrefflichkeit.
Im Hinblick auf die Verbrechen des Nationalsozialismus wird gerne vom
"Unbegreiflichen" gesprochen, um sich davon zu distanzieren. Der
moralische Abstand zu den Verbrechen von gestern soll damit zum Ausdruck kommen.
Und viele meinen es ehrlich. Aber es ist dennoch falsch. Ich mag diese Bekundungen nicht, wenn sie sich von angeblich "Unbegreiflichem" distanziert, denn solches Bekunden hilft nichts und dokumentiert die Bewahrung der Dummheit, die für die Verbrechen mitursächlich war.
Richtig wäre es hingegen immer, von "unermesslichem Leid" zu
sprechen, jedoch gilt dieses für jede Katastrophe, ob nun politisch oder der
Natur - und beginnt dort, wo Schmerz kein eigener ist.
Zu wenigen Menschen war der moralische Abstand zum Faschismus so tief in den Seelen, dass sie für diesen Abstand starben. Aus ihrem Wissen um den Schmutz, der ihre Gegenwart war.
Aber diesen Menschen, die sich dem Nationalsozialismus widersetzten - für sie war es "begriffen", denn sie wurden nicht ohne ihr Zutun zu Opfern, sondern entschieden sich dafür,
weil sie nicht Täter sein wollten.
Sie waren die "Ausnahmen", sie waren die wenigen "Experten in eigener Sache".
So hart die Wertung klingen mag, aber vor allen denjenigen, die sich aus Anstand ihr Leben nehmen ließen, gebührt über das Mitleid hinaus die "zusätzliche Ehrung", während den Überfallenen, den Verschleppten, den Ermordeten "nur" die Ehre zurückgegeben wird, die ihnen verletzt wurde.
Deshalb macht mich jeder so närrisch, wenn sie diese wahren Helden unterschlagen,
denn sie allein stehen für eine "andere Menschheit" und dafür ließen sie ihr Leben.
Und wieder die Einschränkung, denn in den Konzentrationslagern waren auch
welche dieser Helden sich selbst näher als die Juden in der Baracke nebenan,
sich näher als die russischen Kriegsgefangenen, als die Sinti und Roma - und
umgekehrt waren auch diese sich selbst näher und wieder waren der Ausnahmen zu
wenige, dass die Solidarität der Opfer zum Problem der Täter hätte werden
können.
Die Haut der Menschen ist einfach zu dünn, wer auch immer in ihr steckt. Die
eigene Haut ist einem selbst am nächsten.
Deshalb darf es nicht erst so weit kommen, dass die Haut erneut in Gefahr
gerät. Niemand lege Wert auf die Prüfung, denn in Kriegen und Katastrophen ist
das Versagen allgemein und die Heldentat ist stets die Ausnahme.
Auch der deutsche Widerstand lässt sich an ausländischen Hochschulen besser studieren als an den deutschen, denn die
deutschen Historiker verwechseln Geschichtsschreibung zu sehr mit dem oft nicht
glaubhaftem Gestammel des Sünders, der uns entweder Wichtiges verschweigt oder seine Schuld so sehr übertreibt, dass ihm die Umwelt oder die Nachwelt verführt ist, zu verzeihen.
Dann ist von "schicksalhaften Jahren" die Rede und immer wieder von der "Hitlerbarbarei", als sei es Hitler allein
gewesen und nicht Millionen, die ihm halfen oder folgten, als seien die Menschen nicht jederzeit erneut fähig zu solchen
Taten, die wir "Untaten" und "unmenschlich" nennen, um uns
ihrer zu entfremden. Das darin liegende Urteil ist richtig, aber zugleich
ist der Irrtum rückt näher, dass es dem Menschen so "fremd" wäre.
Wenn unsere Großeltern schlechter gewesen wären als wir, so wäre der Faschismus KEIN Problem unserer Kinder, sondern "geschehen" wie vieles andere
auch, was niemand ändern kann.
Aber der Faschismus kann sich wiederholen, er kann sich schlimmer wiederholen. Und er wird es, wenn er sich anders kleidet und wenn wir nicht wachsam sind.
Wenn wir das angeblich "Unbegreifliche" von gestern erst dann
"begreifen", wenn es durch neues Unrecht in den sich wiederholt, dann
wäre zu spät.
Es gibt nur einen Weg zur Wachsamkeit gegen Rassismus und Faschismus: dass sich die Menschen auf allen Ebenen miteinander verbünden. Dass sie nicht mehr wegschauen, wenn Unrecht geschieht, egal wem übrigens, denn auch das ist eine Lehre aus dem Faschismus: im KZ kam die Solidarität zu spät. Nur wenn wir es vorher machen, gibt es ein solcher Hinterher nicht.
Als die Juden abgeholt wurden, da schauten die oft guten Nachbarn durch das Schlüsselloch zu. Viele waren entsetzt, aber das Volk erhob sich nicht.
Wenn heute, hier vor unserem Verlag die Nazis grölen, dann schauen Nachbarn ängstlich durch die Vorhänge, aber niemand sagt etwas und uns ist es peinlich, um Hilfe zu betteln.
Am Tag danach wollen sogar wir es vergessen, weil es so unerträglich ist, dass die lieben Nachbarn wegschauten.
Die Menschen haben sich nicht geändert. Werden sie sich jemals ändern?
Und wir wissen, dass es nicht nur in Deutschland so ist, sondern auch in der Slowakei, in Polen, in Russland, also auch überall dort, obwohl dort der deutsche Faschismus wütete.
Die Menschen sind überall gleich.
Und die Schwachen sind oft nur besser, solange sie sich die Schlechtigkeit nicht leisten können.
Die Menschen in allen Völkern sind gleich. Sie können es nur nicht gleich zeigen.
Deshalb gilt für die Menschheit, was für uns hier im Forum gilt: entweder wir bekommen den Frieden hin, werden stabil in unserem Willen um Dialog oder wir versagen wie alle versagen, die sich streiten und sich immer nur Höheres einbilden, weil sie sich nicht wagen, zu sagen, dass sie es selbst sind, die sich verletzt fühlen und deshalb schlagen.
Ich bin kein Experte für Sinti und Roma, ich bin kein Experte für Gadsche. Ich kenne sie alle zu wenig, aber ich schätze den Experten, der immer mit Bescheidenheit an seinen Forschungsgegenstand heran tritt. Und ein guter Experte/Wissenschaftler hat stets mehr Fragen als Antworten.
"Forschungsgegenstand" kann das Sandkorn sein, kann aber sehr wohl auch der Frieden sein und auch der Mensch. Wer sich nicht erforschen lassen will, was
mir für meine Person nicht uneingeschränkt passen würde, der wahre seine Privatsphäre, aber mache sie nicht zum Politikum anderer.
Wenn ein Deutscher nicht als Deutscher erforscht werden will, dann ist er mir nicht verdächtig, es sei denn, er war schon vorher verdächtig.
Wenn ein Deutscher nicht will, dass niemand die Deutschen erforsche, dann mag er das wollen, wie er will, aber es steht ihm nicht zu.
Noch etwas, Juli,
wenn es so wäre, dass kein Deutscher über Deutsche schreiben würde, dann dürften es die Engländer dennoch tun. Und so ist es auch mit den Sinti.
Wer nur über Kaffee, Liebe und ähnliches sprechen will, mag das tun, aber schreibe es den anderen als einziges Interesse nicht vor.
Ich las in diesem Forum viel Hervorragendes. Da schrieb einer irgendwann, er sei "ganzer Sinto" und zugleich sei er "ganzer Gadsche".
Wir sind nämlich nix Halbes. Sondern viele von uns sind beides und vor allem MENSCH.
Das passt nicht allen. Aber sie werden an dieser Wahrheit nicht vorbei können, auch wenn sie sich nie daran gewöhnen werden.
Das ist ja auch mit anderen Dingen so: meine Eltern werden sich nie an nackte Menschen auf der Bühne gewöhnen, aber dann dürften sie kaum noch ins Theater gehen :-)),
sie gehen aber trotzdem.
Es tut mir um meine geliebten Eltern leid, aber wirklich helfen kann ich ihnen vermutlich nicht.
Andauernd begegnen mir in diesem Forum auch Menschen, die "stolz" sein wollen, exakt ihrer Herkunft zu sein. Aber wir alle kennen die Burschen mit dem Spruch "ich bin stolz, ein Deutscher zu sein"
Was sage ich denen?:
1. Ihr habt es Euch nicht ausgesucht.
2. Die Würde ist wichtiger als Stolz.
3. Die Bescheidenheit ist eine Tugend, während der Stolz nichts als Einbildung ist.
Niemand braucht sich für den Zufall seiner Herkunft zu schämen, niemand sollte sich aus diesem Zufall Herkunft einen Verdienst basteln.
Aber auch das kann man "nur sagen", ob es jemanden nüchterner macht, hängt davon ab, ob er nicht viel lieber unnüchtern sein will.
Neulich besuchte mich ein Exil-Kubaner. Er war Hochschullehrer in Habanna. Sie warfen ihn von der Uni, sie warfen ihn aus seinem eigenen Land.
Und "sein Volk" sah zu.
Er gab als Parole für den Völkerfrieden aus: "Kill Your Nation!"
Ich widersprach ihm, dass wir die Nationen nicht killen dürfen, sondern zur Liebe erziehen müssen.
Aber wieder gilt für die Völker, was für den einzelnen Menschen gelten sollte: er darf sich selbst lieben, aber wenn er sich nur selbst liebt, dann wird er den anderen zum Problem.
Deshalb: die Nation darf sich selbst lieben, aber sie sollte tunlichst auch die anderen Nationen lieben!
und je mehr "das andere" geliebt wird, desto besser der Mensch, desto besser die Nation.
Wir wurden uns nicht einig. Zu tief sitzt sein Schmerz oder ich irre. Aber wir bleiben uns Freunde, denn der Wille zur Freundschaft ist die Wahrheit der
Kritik.
Wer Kritik ohne den Willen zur Freundschaft übt, der lügt und will nur verletzen.
Das ist vielleicht übertrieben, ich weiß es nicht. Aber es ist gewollt wie die Feindesliebe
als ernsthaftester Versuch zur Überwindung der Feindschaft.
Mir sagte jemand im Free-Chat, dass sie aufgegeben habe, die Welt verbessern zu wollen, aber sie hat ein Kind :-))
Sie wird niemals aufgeben, die Welt zu verbessern zu wollen.
Wir müssen es nur auch tun. - Niemand kann uns daran hindern, einander zu
verstehen, außer wir selbst.
Alles Gute!
Sven
Redaktion
Dialog-Lexikon
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