Nachruf für meinen Vater †
Vor wenigen Minuten kam die Nachricht, dass mein Vater um 17:55 Uhr verstarb.
Das sinnerfüllte Leben führt, wer die Möglichkeit hat und nutzt, Sinnvolles
mit Freude zu tun. Das war mein Vater. Als Arzt 1951, 1952 England, 1953 bis
1956 Indonesien, 1965 bis 1968 auf Nias und 1982 in Äthiopien.
Die Zusammenhänge sehen und die Verantwortlichkeiten gegen das Elend, gegen die
Rüstung und den Krieg allgemein, der die Menschen an Körper und Seele verstümmelt,
und denen, die daran auf Vorteile setzen, die Moral und den Intellekt
korrumpiert. Enttäuschung und Zorn rasch mit Selbstironie überwinden, denn wer
Glück haben und bringen, die Verhältnisse bessern will, darf nicht gegen die
Menschen verbittern.
So war mein Vater. Als Antifaschist, Antimilitarist, Arzt, Christ und
Kosmopolit. Leidenschaftlich für den Menschen, die Natur, die Technik, die
Geschichte, für das Detail und das Ganze. Mein Vater war direkt und
temperamentvoll, taktisch klug, aber fair, und gerade deshalb schnell zu enttäuschen,
aber er trug es nicht böse nach, denn wer
zu vieles nachtragen will, kommt mit der Last nicht weiter.
Auch wenn ich Atheist/Agnostiker bin, wünsche ich meinem Vater, dass er nun
ist, wo es so ist, wie es mit mehr Vernunft und Blick für das Schöne ohnehin
überall sein könnte.
16/8/2009 msr
Was aus dem Kind wurde, weiß ich nicht mehr.
Entweder verstarb es in der Obhut meines Vaters oder er konnte es aufpäppeln,
denn in solch Zustand entließ er niemanden aus der Behandlung.
Mein Vergessen kann auch Verdrängen sein, denn die Augen dieses Kindes waren für
mich ziemlich schockierend. Ich war acht oder neun Jahre alt. Überhaupt waren
wir trotz seiner fröhlichen Briefe und Tonbänder nie ohne Sorge um ihn. Mal überlebte
er heikle Situationen auf seinen Touren. Mal knackte eine morsche Holzbrücke
unter seinem Landrover weg; und die Ansteckungsrisiken.
Dann war es schon gut, wenn er wieder hier war und es bei uns "etwas
normaler", aber so richtig gelingen konnte das nie, denn wir als Familie
waren auch nicht sonderlich von Ruhe geplagt und mein Vater, ob als
niedergelassener Arzt oder Chefarzt, je besser die Sachen liefen, desto
langweiliger waren sie ihm bald. Immer mit Kopf dort, wo tolle Leute tolle
Sachen machen, die ihm wichtig waren und sind. Das Gejammer in einer
Gesellschaft, die trotz Krieg und Zerstörung schon spätestens seit 1950 keinen
Hunger litt - und desto mehr jammerte und erneut militarisierte, je besser es
ihr erging - das war für meinen Vater nichts.
Indonesien brauchte Ärzte - und mein Vater brauchte Indonesien. Auf solch
simple Formel lässt es sich bringen, und das kennt eigentlich jeder, dass auch
die größte Anstrengung Spaß macht, wenn gewollt, gekonnt, sinnvoll und dann
sogar auch noch gedankt. Darum geht der Feuerwehrmann sogar in die Flammen, da
keine Belohnung höher sein kann als die Freude von Menschen, denen Leben
gerettet wird. Auf ähnliche Weise spezieller ist es in den Elends-Regionen, in
denen die Rettung so viel weniger Infrastruktur und Selbstverständlichkeit hat.
Darum zog es ihn auf seine "alten Tage" noch einmal hinaus. Er rief
an, ob ich ihn zu einer Organisation begleite, die ihn in nach Bolivien
entsenden wollte. Wir rasten nach Zürich, ließen uns das Projekt schildern,
die Stimmung war gut, alles schien nett - und im Abschied fragte ich noch,
welche Probleme die Hilfsorganisation mit der Militärjunta habe. Die Antwort
war, dass die Völker Latein- und Südamerikas "nicht
reif für die Demokratie" seien. Vater sah ihm tief in die Augen,
wie beim finalen Rat des Arztes an den Patienten auf Leben und Tod:
"Wer für die Demokratie nicht reif wäre, wäre erst recht nicht reif für
Generäle." Alles nickte für den Moment ergriffen, aber mehr dann
wahrscheinlich auch nicht.
Kaum saßen wir im Auto, sagte Vater in solchen Dingen abgeklärt, dass Militärs
zwar kein Grund seien, Menschen die Unterstützung zu versagen, allerdings darf
man schon überlegen, mit wem man unterwegs sein mag - und es gibt genug
Alternativen.
Wochen später rief er an, es gehe nach Äthiopien. In einem der bittersten
Hungerjahre. So sah er bei seiner Rückkehr auch aus. Und Flöhe dabei, denn das
Wasser war zu knapp für die Hygiene. Hygiene ist wichtiger als alle Medizin.
Dafür braucht es "Schwerter zu Pflugscharen" und keine dieser
angeblich "letzten Gefechte". Darum braucht es außer den
Hilfsorganisationen politische Organisationen wie die IPPNW >> http://ippnw.de
Als mein Vater eines Morgens nicht aufwachte und es so schien, als sei nun plötzliches
Ende, dachte ich: Das passt zu ihm. Und wenn es so ist, dann ist es richtig.
Aber was heißt das schon, wenn auch anderes richtig sein könnte. Darum kam er
ins Krankenhaus und war am übernächsten Tag wieder bei Bewusstsein, erholte
sich, wenn auch deutlich geschwächt.
Der Abschied von ihm ging jetzt doch über Jahre, was ihm manches Mal nicht
recht war, uns alle schmerzte, aber oft genug war noch Freude, schönes Gespräch
und alle Herzlichkeit.
Ob er die letzten Stunden mitbekam, bleibt ungewiss, aber wahrscheinlich hätte
er uns gebeten, vom letzten Behandlungsversuch abzusehen. Nur hätte ich es bei
aller Liebe nicht gelten lassen, denn es war immer sein Prinzip, dass zum Leben
alles Mögliche versucht werden muss, ohne dass es auf Wahrscheinlichkeiten
ankommen kann. Der Vorrang des Lebens ist oft genug auf die Probe gestellt und
richtig, was eben nur leider nicht ausschließt, dass es sich verkehrt.
Was bleibt, das ist die Erinnerung an den Glanz in seinen Augen, die das Leben
zu schätzen wussten, diese Begeisterungsfähigkeit für die Welt in ihren
entdeckten und gemutmaßten Weiten, der Blick für die Keime unter dem
Mikroskop, denen der Garaus gemacht werden musste, die Freude an der
Regenwassertonne, der reparierte Fahrradschlauch nicht minder als die großen Brücken
anderer oder die kleinen Brücken, obwohl von ihm geplant und hielten, der prächtige
Wurm im Komposthaufen, der Hering vom Zelt oder der in der Pfanne. Es waren
nicht selten absurdeste Abenteuer, die auch ich mit ihm erlebte. Da hielt mir
kein Kino mit und kein Roman, erst recht keine "Heldensagen", die das
Gegenteil zum Gegenstand haben, indem sie eifrig Unglück verbreiten, eifrig
zerstören und töten. Und wie schnell er auch von traurigsten Dingen aufmuntern
konnte. Hochfliegendes Temperament mit Gravitation aus dem Guten. Und da war
Masse, sonst zieht sie nicht.
Das bleibt mir an Erinnerung an meinen Vater, der immer ein Sonntagskind blieb,
den Montag zu schätzen wusste und nach einem langen Abenteuerleben an einem
Sonntag gestorben ist.
22/8/2009 http://inipedia.com/userforen/viewtopic.php?p=48785#48785