Technik und Gewissheit
Zum
Absturz von Flug AF 447 (Juni 2009)
Da denkt man, die Oberfläche des Planeten Erde sei längst unter permanenter
Beobachtung und keine Bewegung von Mensch oder Maschine bliebe dem Zufall überlassen
- und dann verschwindet ein voll besetztes Flugzeug mit über 200 Insassen mehr
oder weniger spurlos tausende Kilometer vor der Küste Südamerikas im Ozean.
Air France "vermisse" einen Airbus, so lauteten die ersten Meldungen.
"Niedergegangen" (wie ein Komet?) irgendwo im tobenden Atlantik
jenseits der Grenze, bis zu der die Radarüberwachung reicht. Dass es eine
solche Grenze überhaupt gibt, hat mich erstaunt. Das Unbeobachtete des
Geschehens macht es umso unheimlicher. Man könnte auch sagen: Das
Unbeobachtbare. Denn dafür gibt es eigentlich kein Bild: Über 200 Menschen
sitzen in mehreren Kilometern Höhe in einem hochtechnisierten Aluminiumzylinder
und durchfliegen eine Gewitterfront. (Wir groß muss das Vertrauen in die
Technik sein, um sich in eine solche Situation unfassbar gesteigerter
Hilflosigkeit zu begeben?) Dann bricht das Flugzeug auseinander und fällt vom
Himmel. Wie sieht das aus, wie fühlt sich das an? Hier endet die
Vorstellungskraft. Das Alltägliche kippt vielmehr in eine mythische Figur:
Ikarus, der ins Meer stürzte oder E.A. Poes Malstrom. Die Elemente der Atmosphäre
mit ihren Entladungen, ihrer Kälte, ihren Turbulenzen, die alle menschlichen Maßstäbe
übersteigen. Mittendrin ein winziges Flugzeug, das von eben diesen
aufgepeitschten Elementen so ganz nebenbei einfach verschluckt, einfach vom
Himmel geschnippt wird.
Was mag in diesem Flugzeug in den letzten Minuten vor dem Absturz vorgegangen
sein? Zwei Piloten in einer mit Technik vollgestopften winzigen Kabine starren
auf ihre erloschenen Bildschirme und können nicht glauben, was sie sehen.
Sekundenbruchteile bis zur Erkenntnis "Das ist der Ernstfall". Der
Umschlag von Routine in eine unbeherrschbare Extremsituation. Der hektische
Griff nach Knöpfen, deren Betätigung nichts mehr auszurichten vermag. Die
Suche nach Checklisten für einen Fall, der nicht vorgesehen ist. Das Loch in
der Wirklichkeit: Es kann überhaupt nicht sein, dass die vierfach redundanten
Systeme versagen, ein solcher Kollaps ist nicht denkbar. Eine Mischung aus Ungläubigkeit
und durch Hilflosigkeit bis an eine imaginäre Grenze gesteigerte Panik. Technik
und Psyche. Adrenalin, Gebete?
Zutiefst verstörend sind auch die Berichte über die automatischen Funksprüche,
die im Minutentakt Systemausfall auf Systemausfall vermeldeten, letzte Signale
vor dem Super-GAU, letzte Zuckungen der kollabierenden Technik, in ihrer Häufung
laut Airbus nie dagewesene minutiöse Dokumentation einer Katastrophe von
unfassbarer Unwahrscheinlichkeit.
Sollte der Absturz jemals aufgeklärt werden, so wird er sich vermutlich (wie üblich)
als Verkettung unglücklicher Umstände darstellen. Dennoch reißen solche
apokalyptischen Szenarien immer wieder verstörende Löcher in die Gewissheit,
die die technische Beherrschung der Welt zu versprechen scheint, allen
Statistiken zum Trotz.
Martin 20090605 >> Diskussion