Göttinger Manifest/Göttinger Erklärung 1957
Das Göttinger Manifest der 18 Atomwissenschaftler vom 12. April 1957
Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichnenden Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen Bundesministern ihre Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist eine Debatte über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichnenden fühlen sich daher verpflichtet, öffentlich auf einige Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen.
1. Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben. Als "taktisch" bezeichnet man sie, um auszudrücken, daß sie nicht nur gegen menschliche Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen. Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als "klein" bezeichnet man diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen entwickelten "strategischen" Bomben, vor allem der Wasserstoffbomben.
2. Für die Entwicklungsmöglichkeit der lebensausrottenden Wirkung der strategischen Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. Heute kann eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebietes zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik wahrscheinlich schon heute ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen.
Wir wissen, wie schwer es ist, aus diesen
Tatsachen die politischen Konsequenzen zu ziehen. Uns als Nichtpolitikern wird
man die Berechtigung dazu abstreiten wollen; unsere Tätigkeit, die der reinen
Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei der wir viele junge Menschen
unserem Gebiet zuführen, belädt uns aber mit einer Verantwortung für die möglichen
Folgen dieser Tätigkeit. Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen
schweigen. Wir bekennen uns zur Freiheit, wie sie heute die westliche Welt gegen
den Kommunismus vertritt.
Wir leugnen nicht, daß die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben heute
einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der
Freiheit in einem Teil der Welt leistet. Wir halten aber diese Art, den Frieden
und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für unzuverlässig, und wir halten
die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich.
Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte
zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es
sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert,
wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art
verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der
Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise
zu beteiligen. Gleichzeitig betonen wir, daß es äußerst wichtig ist, die
friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir
wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.
Fritz Bopp, Max Born, Rudolf Fleischmann, Walther Gerlach, Otto Hahn, Otto Haxel, Werner Heisenberg, Hans Kopfermann, Max v. Laue, Heinz Maier-Leibnitz, Josef Mattauch, Friedrich-Adolf Paneth, Wolfgang Pauli, Wolfgang Riezler, Fritz Straßmann, Wilhelm Walcher, Carl Friedrich Frhr. v. Weizsäcker, Karl Wirtz