Der "Radikalenerlass" von 1972
Beschluss der Regierungschefs von Bund und Ländern vom 28. Januar 1972
Die Regierungschefs der Länder haben in einer Besprechung mit Bundeskanzler Willy Brandt am 28. Januar 1972 auf Vorschlag der Ständigen Konferenz der Innenminister der Länder die folgenden Grundsätze beschlossen: KOMMENTAR
Ob sich der mir außenpolitisch als klug geltende Staatsmann Willy Brandt mit dem Radikalenerlass innenpolitisch mit Ruhm bekleckerte, erscheint mir zweifelhaft.
1. Nach den Beamtengesetzen in Bund und Ländern darf in das Beamtenverhältnis nur berufen werden, wer die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitliche und demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt;  Woraus sollen die Personalchefs solch eine Prognose ableiten? 
Beamte sind verpflichtet, sich aktiv innerhalb und außerhalb des Dienstes für die Erhaltung dieser Grundordnung einzusetzen. Der Beamte ist immer im Dienst ? 

Solche Beamten wären mir a) nicht geheuer, b) kenne ich solche nicht:
Von unseren vielen Mio. Besuchern scheint offenbar kaum jemand Beamter zu sein, denn ansonsten hätte er die Gelegenheit nutzen können, sich "innerhalb und außerhalb des Dienstes" an unserer Seite "für die Erhaltung dieser Grundordnung einzusetzen" oder merkt ein Beamter nicht, dass wir uns mit Extremisten streiten? >> www.Nazis.de 
Es handelt sich hierbei um zwingende Vorschriften. "Zwingende Vorschriften" - das klingt ungeheuer entschlossen und steigert meine Erwartung :-)
2. Jeder Einzelfall muss für sich geprüft und entschieden werden. Von folgenden Grundsätzen ist dabei auszugehen: Einzelfallgerechtigkeit ist immer richtig. Ob die Kriterien dafür taugen, soll ebenfalls "jede für sich geprüft und entschieden werden."
2.1 Bewerber  

2.1.1 Ein Bewerber, der verfassungsfeindliche Aktivitäten entwickelt, wird nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt.

Und da ist schon das erste Problem: "Verfassungsfeindlichkeit" als unbestimmbarer Rechtsbegriff. Die Feindlichkeit lässt sich jedem unterstellen.  Im GG ist hingegen von "Verfassungswidrigkeit" die Rede, was schwer genug, doch immerhin tatbestandsfähig und beweisbar ist.
2.1.2 Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitliche und demokratische Grundordnung eintreten wird. Auf welcher gesetzlichen Grundlage wird einer Organisation "die Verfolgung verfassungsfeindlicher Ziele" dingfest gemacht? 
Wer wäre berufen, ein solches Urteil zu fällen? Niemand, denn auch das BVerfG dürfte nur über die VerfassungsWIDRIGKEIT entscheiden. Die Gesinnung allein ist nicht justitiabel.
Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ablehnung des Einstellungsantrages. Das war ein Novum bundesdeutscher Rechtsgeschichte, dass ein  "Zweifel" jemandem im Verhältnis zum Staat zum Nachteil gereichen darf.
2.2 Beamte  
Erfüllt ein Beamter durch Handlungen oder wegen seiner Mitgliedschaft in einer Organisation verfassungsfeindlicher Zielsetzung die Anforderungen des § 35 Beamtenrechtsrahmengesetz nicht, aufgrund derer er verpflichtet ist, sich durch sein gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes zu bekennen und für deren Erhaltung einzutreten, so hat der Dienstherr aufgrund des jeweils ermittelten Sachverhaltes die gebotenen Konsequenzen zu ziehen und insbesondere zu prüfen, ob die Entfernung des Beamten aus dem Dienst anzustreben ist. Durch solche Pflicht und Befugnis werden Dienstherren Rechte eingeräumt, sich die Untergebenen stromlinienförmig gefügig zu machen.  In umgekehrter Richtung (von unten nach oben in der Hierarchie) schien es den Regierenden kein "Radikalenproblem" zu geben, ansonsten hätten sie sich auch in Umkehrrichtung Prüfungspflichten auferlegen müssen.

Deshalb: Mit solchen Beschlüssen fördert man den Obrigkeitsstaat und Untertan, aber nicht die Demokratie.

3. Für Arbeiter und Angestellte im öffentlichen Dienst gelten entsprechend den jeweiligen tarifvertraglichen Bestimmungen dieselben Grundsätze. 

Auch diese Regel ist beachtlich, denn selbst in den Dogmen zum "besonderen Treueverhältnis des Beamten" befangen, müsste man sich angesichts dieser Pflichtenausdehnung auf die öffentlich-dienstliche Arbeiter- und Angestelltenschaft die Frage stellen, warum diesen beamtenrechtliche Versorgungsgarantien vorenthalten bleiben. 
Zusammenfassende Kritik
"Radikalenerlass" - ich war nie ein Freund davon, denn "radikal" bedeutet "an die Wurzel greifend", was schlecht sein kann oder auch gut, also keine einseitig negative Begriffsverwendung erträgt.

Aber es stört nicht nur die Biedermeierei gegen die Radikalität, sondern vielmehr, dass mit schwammigen Begriffen über Bürgerrechte entschieden wird.

Meine Hauptkritik gilt dem Begriff der "
Verfassungsfeindlichkeit" als Ausschlusskriterium für den öffentlichen Dienst, denn "Feindlichkeit" lässt sich beliebig unterstellen, während allein der grundgesetzliche Begriff der "Verfassungswidrigkeit" tatbestandliche Prägnanz und Beweisfähigkeit bietet.

Allerdings räume ich ein, dass mich meine frühere Gegenrede heute nicht mehr so sehr überzeugt, denn es stellt sich sehr wohl die Frage, ob nicht auch der Staat das Recht hat zur Bevorzugung solcher Bewerber, die ihm auch hinsichtlich seiner Bewahrung vertrauenswürdiger erscheinen. 

Es könnte ein Recht des Staates sein, dass sich aus seiner Rechtspflicht ableitet, dem Auftrag seiner Bürger zu genügen, so dass Staatsdienstbewerber nur dann in ihren Rechten verletzt wären, wenn sie Teil des pluralistischen Konsenses sind und trotzdem abgelehnt würden, weil sie den Personalentscheidern möglicherweise "nicht konform genug" erscheinen.

Und wen traf der "Radikalenerlass"? 
Er traf unter vielen meine Cousine, die Lehrerin war. Aber er traf die gesamte Republik, denn fortan hatte sich jeder, der in den Staatsdienst wollte, gut zu überlegen, ob er gegen die Regierung, gegen den Vietnam-Krieg, gegen Atomkraftwerke und anderen Wahnsinn demonstriert - und sich damit dem "Zweifel der Verfassungstreue" aussetzt, so sehr er auch davon überzeugt sein mochte und häufig genug zurecht, dass seine politische Aktivität genau das Wesen der "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" mit Leben erfüllten.

Aber sicherlich traf er auch Extremisten, die den Pluralismus nur nutzen wollten, um ihn durch die eigene Intoleranz zu ersetzen. 

Und wen traf er nicht?
Er traf nicht die Speichellecker, die Karrieristen, die jeden Mist mitmachen und für jedes Regime die "brave Beamtenschaft" stellen, weil sie dann ungehemmt ihren Teil daran haben. Er traf nicht die vielen Desinteressierten, die nicht im Traum auf die Idee kommen, auch nur einmal zu demonstrieren außer für höhere Bezüge. Und war das dann "jederzeitiges Eintreten für die freiheitlich-demokratische Grundordnung"?

Aber schon wer sich als Beamter und Demokrat im Widerspruch zur eigentlich verfassungsungewollten  Obrigkeit befand, musste um seinen Status fürchten, wenn er nicht zugleich durch Mitgliedschaft in einer der selbsternannt "staatstragenden Parteien", die durch viele Skandale belegt oft genug eher plündernd als staatstragend sind, Pluspunkte gegen den schon zur Entlassung zwingenden "Zweifel" sammelte. 

Eine Beamtenschaft, die den Radikalenerlass mitträgt, ist über meinen Zweifel an ihrer freiheitlich-demokratischen Gesinnung also längst nicht erhaben.  Darum "prüfe und entscheide ich in jedem einzelnen Fall". 

Die Alternative zum Radikalenerlass
Doch die Demokratie und ich sind genügsam: Es genügt uns in der Regel, wenn die Staatsbediensteten möglichst ordentlich ihre Arbeit tun.  Gewissenhaft und nach Vorschrift - das sollte reichen.  Gehen Gewissen und Vorschrift dem Beamten nicht zusammen, so soll er sich durch Gerichte helfen lassen und/oder  seinen Stuhl räumen, wenn er tun soll, was er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren mag.

Die Alternative zum Radikalenerlass ist KEIN Radikalenerlass, denn mehr als die Einhaltung von Regeln kann der Staat nicht verlangen und das "jederzeitige Eintreten für die freiheitlich-demokratische Grundordnung" kann und darf nur dann bezweifelt werden, wenn beweiskräftig und richterlich festgestellt ist, dass jemand gegen die Verfassung verstoßen hat oder plante.  

Aber jede "Gewissensprüferei" ist absurd und selbst verfassungswidrig.

Die Gewissen lassen sich nicht gebieten, sondern nur beraten. An dieser Wahrheit und Aufgabe hilft kein Gesetz vorbei.
   
sven200401      Thema ERGÄNZEN

http://www.glasnost.de/hist/apo/radikalerl.html  = Gegenposition linker Hand

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