Polizeistrategie

Grundsätzlich gibt es verfassungsrechtlich überhaupt keine Alternative zu "Deeskalationsstrategien", denn die Gewaltandrohung und Gewaltanwendung steht unter dem generellen Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit, so dass von mehreren geeigneten Mitteln ohnehin stets nur das "mildeste" zum Einsatz kommen darf.

Das "mildeste Mittel" hat auch nicht allein mit "Gutmenschelei" zu tun, sondern dürfte zugleich das effizientere Mittel sein, denn es hat die höchste Legitimation (=macht sich weniger Feinde) und isoliert am ehesten die Gewalttäter. 

Schon deshalb disqualifizieren sich Leute, die eine "harte Linie" propagieren. Entweder fehlt es ihnen an Sachverstand oder sie wollen sich durch Populismus hervortun.

Der Staat rechtfertigt sich als Sachwalter der Gesellschaft, nicht etwa nur der Mehrheit, sondern in funktionierenden Demokratien insbesondere auch den Minderheiten, wenn diese ihre Oppositionalität gesetzestreu kundtun (z.B.: Demonstration). 
Wenn der Staat sich diesen Bürgern gegenüber nicht mehr als auch deren Sachwalter ausweist, dann vertieft der Staat die bestehenden Widersprüche, provoziert demokratiewidriges Verhalten und provoziert zugleich die staatliche Repression, die damit unzulässig würde.

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Nachbetrachtung der Mai-Krawalle in Berlin

Taktische Pluspunkte der Polizei-Strategie: 

1. Vermeidung staatlicher Drohgebärden, indem die fremdgalaktisch gekleideten Kampftruppen unsichtbar in Seitenstraßen positioniert wurden,

2. kein "automatisches" Reagieren auf Provokationen (also praktisch auch das, was wir im Chat als Admins machen sollten, um nicht zum Spielball von Provokateuren zu werden): "Die Macht muss sich die Entscheidung zum Handeln vorbehalten."

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Taktische Minuspunkte der Polizeistrategie:

1. Berichtet wurde von hysterischen Lautsprecheransagen der Polizei-Einsatzleitung. Stattdessen wäre angeraten, dass sich die Einsatzleitung zu den Demonstrationsverantwortlichen begibt und die Demonstrationsauflösung konkret und ruhig verabredet anstatt sie gebieterisch zu verkünden.

2. Nach weiteren Berichten wurde eine Demonstration ohne Veranlassung eingekesselt. - Jedes Plausibilitätsdefizit ist falsch. 
Polizeitaktisch steht der Gedanke dahinter, in einem "günstigen Augenblick" die Initiative zu ergreifen und einer Entwicklung zur Unfriedlichkeit vorzubeugen. 
Als "günstig" wird die Chance aus dem Überraschungsmoment angesehen. 

Wenn aber kein "Grund" zu staatlicher Intervention gegeben ist, so bräuchte es wenigstens einen "Anlass". 
Grundlose und zugleich veranlassungslose Überraschung ist stets falsch und steht der Deeskalationsstrategie diametral entgegen. - Das mag ein Unterschied zwischen innerstaatlicher Gewalt und dem Krieg sein, wobei für den "gerechten Krieg", sofern man ihn für möglich hält, nichts anderes gelten dürfte als die Bindung an bestehende Vereinbarung (Völkerrecht, Verträge, UN-Resolutionen) und das Gebot zu permanenter Verhältnismäßigkeit, eben auch zum mildesten Mittel.

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Wo bleibt bei all dem der Gedanke der "Abschreckung" oder darf der Staat überhaupt "nur reagieren"?

Ich denke, wenn es um Gewalt geht, dann darf tatsächlich "nur reagiert" werden. 
Die Initiative ist der Politik durch die Gesetzgebung vorbehalten, durch das Schulwesen etc.

Auch die Prävention darf nicht zum Schlupfloch für das Deeskalationsgebot werden. Insbesondere die Prävention braucht klare Regelungen, indem schon die Herbeiführung einer Gefahr für die öffentliche oder zwischenstaatliche Sicherheit selbst bestimmt und unter Strafe gestellt wird. Der Gesetzgeber bzw. die internationalen Legislativ-Organe haben eben eine Menge zu tun, um den Einsatz von Gewaltmitteln zu rechtfertigen. - Übrigens ergibt sich aus dem Gesagten auch, dass Gewalt und Krieg nicht die "Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" sind, sondern stets Verletzung von Rechtsgütern, die eines Rechtfertigungsgrundes bedürfen. Wer sich etwas in der Rechtswissenschaft auskennt, der erkennt die konstruktive Vergleichbarkeit mit Notwehr, Nothilfe und dem ärztlichem Heileingriff.
 

Kritik >> Polizeigewalt20090912Berlin
Kritik >> 20011201_demobericht.htm
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