George Steiner   geb. 1929 Paris
Rede von Bundesaußenminister Fischer anlässlich der Verleihung des Ludwig-Börne-Preises an George Steiner in der Paulskirche zu Frankfurt am 25. Mai 2003

Kritische Kommentierung

Lieber George Steiner,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

"Kennen Sie George Steiner? Den absoluten Flaneur- den Landvermesser all unserer gegenwärtigen und vergangenen Kulturen?" Diese Frage stellt der französische Autor Erik Orsenna in seinem Roman "Inselsommer".

Heute wird George Steiner der Ludwig-Börne-Preis verliehen. Wir ehren damit einen bedeutenden Gelehrten, einen großen Schriftsteller und Essayisten, einen Meister des Wortes, einen scharfen, bisweilen provozierenden Geist, der auch im Irrtum Größe beweist. Er verdient diesen Preis, daran kann kein Zweifel bestehen. Und doch muss eine Laudatio auf George Steiner fast zwangsläufig mit Orsennas Frage beginnen:

Kennen wir George Steiner? Können wir ihn überhaupt kennen?

Viel ist über George Steiner geschrieben worden. Die Meinungen sind dabei von heftiger Unterschiedlichkeit. Die meisten Kritiker haben Mühe, ihn in seiner ganzen Komplexität, in seiner Individualität und seiner bisweilen auch elitären Querköpfigkeit zu fassen. Steiner selbst bekennt freimütig: „Mir sind die großen Risiken lieber. Gewiss gab es darin Fehler, Ungenauigkeiten, denn ein Buch, das es wert ist, zu einem ständigen Begleiter zu werden, ist das Werk einer einzigen Stimme, das Werk einer Leidenschaft, das Werk einer Persona." Solche Standpunkte provozieren Wissenschaft und Kritik – und das ist Absicht.

So ist Orsennas Bild zwar gelungen - es beschreibt den Flaneur durch die Zeiten und Kulturen, den Beobachter, den Kreativen und den Analytiker. So werden zwei Elemente seines Schaffens deutlich: Das genuin Künstlerische und das Intellektuelle. Aber auch Orsenna vermag die Frage nicht zu beantworten: Warum entzieht sich George Steiner nahezu allen gängigen Beurteilungskriterien?

Steiners Werk ist ebenso umfangreich wie vielseitig. Er ist Essayist, Literat, Lehrer und Wissenschaftler zu gleich. Dabei betreibt er nicht nur Linguistik, sondern bezieht Hermeneutik, Theologie, Musikwissenschaft und Philosophie ebenso wie die Naturwissenschaften in seine Arbeiten ein. Er ist ein Universalgelehrter, einer der ganz wenigen unserer Zeit. 

Seine belletristischen Werke haben große Aufmerksamkeit erregt. Seine Kritiken und Essays im "New Yorker" sind Legende. Seine Schüler schwärmen von seiner Fähigkeit, zu unterrichten und vermitteln. Fast lässt uns George Steiner an das Gelehrtenideal der Renaissance denken.

Heutzutage, im Zeitalter der Spezialisierung und des Expertentums, gehört Mut zu dieser Bandbreite. Wer traut sich in unserer Zeit noch, Mathematik, Literatur, Musik und Kosmologie in einen Zusammenhang zu setzen? Steiner beklagt das Auseinanderfallen der Wissenschaften. Damit kritisiert er implizit die zunehmende Spezialisierung und Detailliertheit der Forschung, die die großen Zusammenhänge mehr und mehr aus den Augen verliert. Fast zwangsläufig weckt diese Haltung das Misstrauen der Spezialisten. Ihre Kritik an Steiners Schaffen war oft heftig – so als ob sie sich wehren müssten gegen einen, der versucht, weit auseinanderliegende Enden miteinander zu verknüpfen.

Auch Steiners Kritik an der Auflösung der klassischen europäischen Hochkultur und deren humanistischem Bildungsideal ruft häufig Widerspruch hervor. Er beklagt die Bildungsabkehr der jüngeren Generationen und befindet: „Die Jungen sagen:

... Eure Hochkultur war fürchterlich, ... man hat uns wie Gänse damit genudelt. Niemand hat uns gefragt, ob wir Goethe mochten, wir fanden ihn grässlich. Ich weiß das … In diesem Fall finde ich mich bald in der Gattung der Mastodone wieder, ein teilweise Überlebender der elitären Hochkultur." Bei aller Skepsis gegenüber diesen Äußerungen – die Generation der Postmoderne, die sich vom humanistischen Bildungsideal verabschiedet hat und zu der auch ich selbst gehöre, sieht sich heute mit durchaus berechtigt kritischen Fragen konfrontiert.

In Paris als Sohn jüdischer Eltern aus Wien geboren, wächst George Steiner in New York auf und studiert in Chicago, Harvard und promoviert in Oxford. Er lebt in Genf und Cambridge. Er fühlt sich in Europa zu hause und verdankt Amerika viel; ein polyglotter Beobachter, der drei Sprachen seine "Muttersprachen" nennt und darüber hinaus noch etliche mehr spricht.

George Steiner – ein Amerikaner? Ein Brite? Ein Franzose oder gar ein Österreicher? Ihn einer Nation zuordnen zu wollen, ist ein fast unmögliches Unterfangen. Überhaupt hat er zu den Symbolen einer Nation, zu Pässen und Flaggen ein – diplomatisch gesagt – schwieriges Verhältnis. Jegliche Form von Nationalismus ist ihm fremd, ja zuwider.

Er selbst sagt, dass er da zu hause ist, wo seine Schreibmaschine steht, wo ein Schreibtisch zu seiner Verfügung ist und vielleicht ein Café – besser vielleicht: Ein Kaffeehaus in der Nähe. Letzteres spricht eindeutig für Europa. 
Fast könnte man also versucht sein, diese Selbstbeschreibung als das "alteuropäische" Intellektuellenideal zu verorten.

Und schließlich ist sein Zuhause die Welt der Bücher, die Welt des Geistes, die Welt des Universellen. Sein Elternhaus war voller Kunst und Literatur, voller Bücher und Klänge. Der jüdisch-bürgerliche Hintergrund, die großartige mitteleuropäische Tradition von Mehrsprachigkeit und großer Bildung hat ihn geprägt. Ihm fühlt er sich bis heute verpflichtet. Die Auseinandersetzung mit Literatur und Geistesgeschichte bleibt das Entscheidende in seinem Leben.

Dabei steht die Sprache im Mittelpunkt. Ihr gelten seine wichtigsten Forschungen und Gedanken. George Steiner glaubt an den lebendigen Organismus Sprache, er glaubt an ihre schöpferische Kraft. Sie ist die zentrale Instanz des menschlichen Bewusstseins. Sie transportiert Moral und den Humanismus, von dessen Notwendigkeit er so überzeugt ist.
Gleichzeitig aber kann die Sprache zerstörerisch wirken, kann, wenn sie von Moral und Gefühlsleben abgetrennt wird, "entmenschlicht" werden. 

Eindrücklich zeigt George Steiner dies am Umgang mit der Sprache im nationalsozialistischen Deutschland. Ganz in den Dienst der Diktatur und ihrer Gräueltaten gestellt, wurde sie entindividualisiert und brutalisiert. Die akribische Aufzeichnung aller Schrecken durch die Nazis, die nur vermeintliche Versachlichung durch Protokolle und Anordnungen haben die Sprache degeneriert. Grausamkeit und Lüge setzten sich in ihr fest. So verkommen und erstickend sei die Sprache geworden, dass Steiner als einzige redliche Alternative das Schweigen anführt.
"Das Wort darf kein wildes Dasein führen, keine Freistatt haben an den Stätten der Bestialität", so hat er es in seinem Essayband "Sprache und Schweigen" formuliert.
Diese erschreckende Entwicklung, auch und gerade die Vergiftung der deutschen Sprache durch die Nazi-Diktatur hat zu einer Lähmung des Wortes geführt, die lang über den Krieg hinaus andauerte. In seinem viel beachteten Essay "Das hohle Wunder" analysiert Steiner 1959 die Sprache in der Bundesrepublik der unmittelbaren Nachkriegsjahre.

Mit meinen in dieser Spalte befindlichen Kommentaren möchte ich nicht den Eindruck erwecken, als sei nun die gesamte Laudatio unsinnig, schon gar nicht soll das Werk Steiners geschmälert sein, aber Fischer versagt in zentralen Momenten der Aufarbeitung der NS-Verbrechen und er versagt auch in der Reflexion von nationalen Identitätsfragen - sowohl das deutsche Judentum als auch die Nichtjuden betreffend.
Auch wenn der Wiederaufbau und die Entstehung einer demokratischen Ordnung an ein Wunder grenzte – vorsätzliches Vergessen, Verdrängen und Verstellung in weiten Teilen der Bevölkerung hätten das verhindert, was für Sprache und Kommunikation nötig gewesen wäre: 

"Wunder"? Jede Mythologisierung des Politischen ist falsch.

Nämlich die Reinigung durch die Anerkennung und Formulierung der schonungslosen Wahrheit. die "Formulierung der schonungslosen Wahrheit" neigt zur Antidialektik. Mit solch Fundamentalismus vermag ich nichts anzufangen, auch wenn er "gut gemeint" sein wird. 
Damals hat dieser Aufsatz in Deutschland große Verärgerung ausgelöst. In der Rückschau müssen wir feststellen, dass diese Analyse des damaligen Diskurses in der Bundesrepublik sehr viel an Wahrheit enthielt. Verdrängung und Verschweigen der Naziverbrechen und des Holocaust wurden dann spätestens mit dem großen Auschwitz-Prozess in dieser Stadt ab Mitte der 60er Jahre anhaltend durchbrochen.

Steiners Betrachtungen müssen uns nach wie vor zu denken geben. Wenn von unserer jüngsten und jüngeren Vergangenheit die Rede ist, neigen wir immer noch und immer wieder zur Floskelhaftigkeit. Durch ständige Wiederholung ritualisierte und dadurch letztlich sinnentleerte Worte lassen die Erinnerung für eine jüngere Generation eher verblassen, als dass sie diese fruchtbare Vergangenheit lebendig machen.
 
Wir dürfen nicht achtlos umgehen mit unserer Sprache, wir dürfen keine Banalisierungen, keine Simplifizierungen des Schreckens zulassen. Gerade bei diesem für uns Deutsche so entscheidenden Thema der nationalsozialistischen Verbrechen bedarf es immer wieder aufs neue der Anstrengung, um die richtigen Worte zu finden. Steiner hat uns die manipulative und destruktive Kraft, die in der Sprache steckt, vor Augen geführt.
Seine Darlegungen müssen uns eine Mahnung sein, die es zu beherzigen gilt.
Niemand darf achtlos mit Sprache umgehen. Die Täter nicht, die Opfer nicht, deren Nachfahren nicht und niemand.
George Steiner hatte das Glück, durch die politische Weitsicht seines Vaters den Schrecken des Holocaust entkommen zu können. Früh wurde die drohende politische, ja existenzielle Gefahr erkannt, früh verließ die Familie Österreich. 1940 emigrierte sie nach New York. Nur "gegen den lautstarken Protest meiner Mutter", wie Steiner sagt, kehrte seine Familie dem geliebten Wien den Rücken, nur ungern verließ sie Europa. Aber sie taten das einzig richtige. Denn in den folgenden Jahren setzte die menschenverachtende Schreckensherrschaft der Nazis der Jahrhunderte alten Blüte und Kultur jüdischen Lebens in Europa ein furchtbares Ende. Bis heute ist dies ein unfassliches Verbrechen, ja eine historische und kulturelle Katastrophe sondergleichen.  
George Steiners Familiengeschichte – und es gibt unzählige andere vergleichbare – macht uns erneut bewusst: Wir Deutsche haben mit der Entrechtung, Vertreibung und Ermordung der deutschen und europäischen Juden durch die Nationalsozialisten wesentliche Teile unserer eigenen Identität und Kultur und die vieler Nachbarländer unwiederbringlich zerstört. Nicht "wir" und nicht "wir Deutschen", sondern "es waren Deutsche".

Noch oben plädiert Fischer für Exaktheit der Sprache und verfällt hier in antideutschen Pauschalismus und bedient damit antisemitische Propaganda.  

Jede Gegenüberstellung von "Wir Deutsche" und "deutschen Juden" impliziert die Entdeutschung der deutschen Juden, denn auch sie sind "Wir Deutsche"  

Wir haben mit den Menschen auch eine uralte Tradition mitteleuropäischer Geistesgeschichte vernichtet;  "Wir haben vernichtet"? Nein, ganz sicher nicht und solch implizite Behauptung der Kollektivschuld ist falsch.
Männer und Frauen, die deutsch sprachen und schrieben, die aber in vielen anderen Sprachen ebenso zuhause waren und weit über den deutschsprachigen Raum hinaus wirkten und dachten. Denen provinzielle Engstirnigkeit und spießiger Nationalismus fremd waren. Die ihre Wurzeln im Glauben an die Zivilisation unseres Kontinents hatten. Die aus einer umfassenden Bildung schöpfen konnten. Die unsere Wissenschaft, Literatur und Kunst über lange Zeit unendlich bereichert haben.  
Namen wie Elias Canetti oder Erwin Chargaff, um nur einige wenige zu nennen, zeugen von dieser großartigen Tradition. Auch George Steiner entstammt ihr. Auf die Frage, wer sein Werk am meisten beeinflusst habe, antwortet Steiner:

„Die Frankfurter Schule. Walter Benjamin hätte das wirkliche großartige „Nach Babel" geschrieben, wenn er am Leben geblieben wäre. … Dann ist da Adorno, dessen siebzehn Bände zur Musik lebendig bleiben werden, lange nachdem die kritische Theorie der Frankfurter Schule verschwunden ist;
Ernst Bloch, der messianische marxistische Utopist; Lukács, der führende marxistische Literaturkritiker. Die mitteleuropäisch-jüdische Tradition – messianisch, polyglott, mit Goethe und Puschkin und Shakespeare im Mittelpunkt – hatte einen ungeheuren Einfluss auf mich: Jüdische Überlebende, jüdische Betroffene, jüdische Urheber großer historischer Irrtümer, jüdische Marxisten, jüdische Messianiker, jüdische Propheten, Juden, die ihr Jahrhundert gelebt haben."
 
Ich fürchte fast, Steiner selbst ist einer der letzten Vertreter dieser mitteleuropäisch-jüdischen Geisteswelt.
Solch Abgesang ehrt den Geehrten nicht wirklich und Fischer versäumt für eine Erneuerung der mitteleuropäisch-jüdischen Geisteswelt Perspektiven zu entwickeln.
Deutschland hat sich durch den Holocaust wesentlicher Teile seiner eigenen geistigen und kulturellen Elite beraubt. Die traurigen Folgen, ja den Schmerz dieses Verlustes merken wir bis heute. Das ist wahr, denn Deutschland haftet nicht nur als Völkerrechtssubjekt unvermeidlich "kollektiv", sondern auch kulturell, so sehr man solche Kollektivschäden zu vermeiden suchen sollte.
Die Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten nimmt in Steiners Denken einen, wenn nicht sogar den zentralen Platz ein. Er sei ein Mensch der Erinnerungen, sagt er von sich.
Im Zentrum seines Werkes stehe der Versuch, nach der Shoah dazusein - kulturell, philosophisch, im literarischen Sinne.

So diskutiert er ausführlich die These, dass das 20. Jahrhundert das schwärzeste der überlieferten Geschichte sei.
 
Einiges spreche dafür: Die Statistik des Grauens übersteige unser Vorstellungsvermögen. Millionen von jüdischen Menschen – vom Säugling bis zum Greis – wurden allein deshalb ermordet, weil sie existierten.

Der erschütterndste Tiefpunkt dieser Jahrhunderte alten Kette von antisemitischer Gewalt und Pogromen war der Holocaust, der Mord am europäischen und deutschen Judentum durch die Nazis und das deutsche Reich. Bildung und Erziehung haben damals in einer europäischen Kulturnation, in Deutschland, auf furchtbare Weise versagt. Sie haben nicht nur nichts zur Humanisierung beigetragen, sondern schienen geradezu zu Komplizen des Grauens geworden zu sein. 
Dann gilt es, diesem Vorstellungsvermögen nachzuhelfen oder bekommt es dem historischen Urteil, wenn es am Hindenken fehlt? 

Quantitativ >>> Der Holocaust war wie die Ausrottung der Bevölkerungen von Berlin, Hamburg und Düsseldorf. 

Qualitativ >>> Weil der Rassismus zu solchen Verbrechen im Stande ist.

Bildung und Erziehung versagten nicht, sondern Menschen versagten. 

Hat diese Erfahrung des unfassbaren Grauens in der Folge nun zu einem kollektiven Umdenken geführt? Nicht alle mussten "umdenken", sondern viele dachten von vornherein richtig.
Steiner verneint es. Die Bereitschaft zum Völkermord gibt es nach wie vor, das zeigen die Tragödien von Kambodscha und Ruanda. Der Antisemitismus, so muss er feststellen, ist angesichts der Shoah nicht verschwunden, sondern sein Gift wirkt weiter bis in unsere Gegenwart hinein. Mitten in Europa und vor unseren Augen, in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien, kehrten in jüngster Zeit Kriege, Vertreibung und ethnische Säuberungen zurück. In scharfen Worten hat George Steiner noch letzte Woche die Unfähigkeit Europas kritisiert, mit der blutigen Balkankrise fertig zu werden.

In diesem Punkt nun muss ich George Steiner widersprechen. Die Erfahrung von Srebrenica hat Europa aufgerüttelt. In Mazedonien wurde ein zweites Bosnien durch Diplomatie und Militär verhindert. 
Wer sich dem Holocaust durch Beschreibungen wie "unfassbar" usw. künstlich entfremdet, dem sollten sich solche Vergleiche verbieten, zumal die Balkanpolitik der EU und NATO/Russland selbst nicht ohne Zweifel der Legitimität ist. So sehe ich den Krieg gegen Serbien als völkerrechtswidrig an. 

 

Europa muss als Konsequenz aus dieser Erfahrung in Zukunft auch militärisch dazu in der Lage sein, alle innereuropäischen Konflikte allein zu lösen, gemeinsam mit unseren transatlantischen Partnern USA und Kanada unsere strategische Nachbarschaft zu sichern und unseren angemessenen Beitrag für die globale Sicherheit und Stabilität unter dem Dach der Vereinten Nationen zu gewährleisten. "allein zu lösen ... gemeinsam mit ..." ist widersprüchlicher Krams und die Vereinten Nationen wurden auch mit dem Balkankrieg vor vollendete Tatsachen gestellt, die eben kriegstypisch wieder einmal nicht den Konflikt beendeten.
Wir dürfen auch vor einer erneut wieder anwachsende
antisemitische Herausforderung die Augen nicht verschließen, sondern müssen dieser aktiv entgegentreten. Und lassen Sie mich dies zweifelsfrei feststellen: Dies ist in erster Linie nicht die Aufgabe unserer jüdischen Gemeinden, sondern vor allem der demokratischen Mehrheit in unserem Land.
 
Auch wenn mittlerweile die große Mehrheit der Deutschen die fortgeltende Verantwortung für den Völkermord an den deutschen und europäischen Juden angenommen hat – unsere Aufgabe bleibt es weiterhin, jeder Form des Antisemitismus, jeder Form des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit entschlossen entgegenzutreten.

Verantwortungsübernahme für NS-Verbrechen

Leider gibt es auch in Deutschland immer wieder antisemitische Übergriffe und Gewalttaten. Es schmerzt mich, dass nach wie vor jüdische Einrichtungen unter ständigem Polizeischutz stehen müssen. Mit juristischer und polizeilicher Verfolgung der Täter ist es nicht getan. George Steiner lehrt uns, dass es bei Antisemitismus und Rassismus auch und gerade um eine geistige Auseinandersetzung, um unsere innere Einstellung geht, um Kommunikation, letztendlich also um unsere Geisteshaltung.

 

Diese Fragen sind für unser Land unvermindert von sehr großer Bedeutung. Die Ursprünge des heutigen, des demokratischen Deutschlands können vom Hintergrund der Verantwortung unseres Landes für das Menschheitsverbrechen des Holocausts nicht abgelöst werden.  Völkerrechtlich mag solche Formulierung "Verantwortung unseres Landes" stimmen, aber "wem gehörte unser Land während der NS-Zeit?

Ich halte die Außerachtlassung solcher Einwände für Wasser auf die Mühlen nationalistischer Ideologie.

Es ist unübersehbar, dass durch die "Wir" und "Unsere" genau die politischen Gegensätze eingeebnet werden, auf die es ankommt, um die Täterschuld von der Kollektivschuldbehauptung zu unterscheiden.

Die Erinnerung an dieses Menschheitsverbrechen und die aus ihr resultierende Verpflichtung wird unsere Politik auch weiterhin bestimmen. Wir müssen alles tun, um die Erinnerungen an dieses abgründigste Kapitel unserer Vergangenheit wach und lebendig zu halten.  
Steiner selbst hat es treffend formuliert: "Niemand hat das Recht, das Wort Verzeihung zu gebrauchen, schon gar nicht der, der selbst die Todeslager nicht erlebt hat. ... 

Nur eins darf man nicht zulassen: das Vergessen. Mit jedem Vergessen sterben die Gefolterten und Verbrannten ein zweites Mal."

Steiner hat nur insoweit recht, als dass niemand stellvertretend zu verzeihen befugt ist. Aber diese Aussage würde ihre Geltungsgrenze überschreiten, wenn sie Täterschaft als vererblich impliziert.
Und ich würde auf die zweite Aussage Steiners genauer fassen:
"Jedes Verbrechen, das vergessen gemacht wird, wäre wie eine Wiederholung des Verbrechens im Geiste."
Und wenn der moralische Unterschied zwischen Wollen und Tun auch noch so gering ist, so groß ist er für die Geschichte, für die Täterschaft, für die Strafbarkeit  und für die Chance auf Wandel zum Besseren. - Wer diesen Unterschied einebnet, handelt politisch falsch.
Immer wieder reflektiert Steiner über seine jüdische Herkunft und das Judentum und seine Wechselwirkungen mit der europäischen Geistesgeschichte. Immer wieder hinterfragt er die Gründe, die den Juden die Kraft gaben, die Hölle der Shoah zu überleben. Den Staat Israel sieht er dabei als das Vermächtnis dieser Geschichte des jüdischen Volkes. Aus dem unfassbaren Entsetzen sei eine neue Chance hervorgegangen. Oft ist nicht einmal eigene Leiden ist "fassbar", umso weniger die Leiden der Opfer der NS-Verbrechen von denen, die dem nicht ausgesetzt waren.
Man sollte sich aber wenigstens dessen bewusst sein, dass die Überbetonung des "
Unfassbaren"  dem Aufklärungsanspruch zuwider läuft.
Einerseits ist Israel für ihn das "unentbehrliche Wunder", Ausdruck und Wille des Überlebens des jüdischen Volkes. Aber gleichzeitig empfindet er es auch als ein "kummervolles Mirakel": Durch die anhaltende Bedrohung seiner Existenz durch die arabischen Nachbarn musste sich der Staat der Juden bis an die Zähne bewaffnen. Damit aber befindet sich das Land für Steiner im Widerspruch zum universalistischen, polyglotten Geist des Judentums. Um überleben zu können, musste Israel wehrhaft werden. Kein "Wunder", sondern "Konsequenz" und "Wille" der Vereinten Nationen. Was sollen solche Mythologisierungen des Politischen? So verhindert man eher politische Verantwortungsübernahme.
Aber selbst wenn diese militärische Widerstandsfähigkeit die einzige Überlebensgarantie sei, so Steiner, bleibe der waffenstrotzende Nationalstaat vor dem Hintergrund des Schreckens eine bittere Erinnerung. "Und einigen der radikalsten und humansten Elemente jüdischen Geistes bleibt er fremd", so befindet er. Sein Verhältnis zu Israel muss man daher als bejahend und kritisch distanziert zugleich bezeichnen. Freilich geht es Steiner in seiner Kritik um die Begrenztheit Nationalstaats an sich – also nicht nur um Israel.

Politisch ist das Existenzrecht Israels und das Recht seiner Bürger, in Frieden und Sicherheit zu leben, ohne Alternative.
Für Europa und besonders für uns in Deutschland sind diese Rechte die nicht verhandelbare Grundlage unserer unerschütterlichen Solidarität mit Israel.

Gleichzeitig aber bedrücken uns Terror und militärische Gewalt im Nahen Osten und die Tatsache, dass immer noch kein Friede zwischen Israelis und Palästinensern herrscht. Zum ersten Mal seit langem tut sich jetzt eine echte Chance zu einem wichtigen Fortschritt hin zu einer dauerhaften politischen Lösung dieses tragischen Konflikts auf.

Trotz aller Rückschläge der letzten Jahre, trotz des anhaltenden, mit allem Nachdruck zu verurteilenden Terrors: Ich bin von der Möglichkeit eines Friedens im Nahen Osten fest überzeugt. Wenn beide Seiten den in der sogenannten „Road Map" vorgezeichneten Weg beschreiten, könnten am Ende zwei demokratisch legitimierte Staaten stehen, die friedlich nebeneinander leben.

George Steiners Werke kreisen um Werte wie Wahrheit und Moral; bei denen er zu keinen Kompromissen bereit ist. Er stellt sich existenzielle Fragen. Er ist von der Notwendigkeit eines aufgeklärten Humanismus überzeugt, angesichts der Schrecken des letzten Jahrhunderts aber desillusioniert. Und so durchzieht sein Werk ein melancholischer, ja ein pessimistischer Grundton. Es ist die Melancholie eines Wissenden. Steiner muss gestehen, auf entscheidende Fragen keine absoluten Antworten gefunden zu haben.
Seine umfassende Methode, sich den Problemen zu nähern, empfindet er gleichzeitig als Mangel an Konzentration.
 
"Ich habe meine Kräfte verzettelt und dadurch vergeudet" so lautet sein schonungsloses Eigenurteil. Und er bekennt in einem Gespräch mit dem Übersetzer Ronald Sharp:
"Ich bin den Themen, die mich am tiefsten bewegen, nicht gewachsen." Immer wieder fühlt er sich missverstanden und zu Unrecht kritisiert. Im Titel der Bilanz seines Lebens spiegelt sich diese Traurigkeit wider: Er hat sie "Errata" genannt.
Diese "Verzettelung" ist für alle Menschen unvermeidlich, die sich wagen, über etwas mehr nachzudenken.
Lieber George Steiner, ich hoffe, Sie gestatten mir, Ihr Schaffen anders zu bewerten. Ich bin Ihnen für Ihre unvoreingenommenen Fragestellungen, für Ihre intellektuelle Kompromisslosigkeit und sich niemals erschöpfende wissenschaftliche Neugierde dankbar. Ihre Mahnungen und nicht zuletzt ihre Provokationen sind uns wichtig. Sie legen Ihren Finger oft auf die richtige Stelle und weisen damit gleichzeitig die Richtung. Und Sie vermitteln uns dabei etwas von der großartigen Bildung des alten Mitteleuropas – eine Tradition, aus der nur noch sehr wenige schöpfen können und die leider einer vergangenen Zeit, einer unwiederbringlich zerstörten Kultur angehört.
 
George Steiner erhält heute den Ludwig-Börne-Preis. Orsennas "Landvermesser unserer gegenwärtigen und alten Kulturen" wird mit dem Preis ausgezeichnet, der den Namen eines anderen Meister des Wortes trägt. Unerschrocken und kreativ, mit Ironie und gleichzeitig voller Ernst schrieb Ludwig Börne den Deutschen Unbequemes und Wahres ins Stammbuch. Seine Kritik war glaubwürdig, denn sie erfolgte unverstellt, aus Liebe zur Wahrheit und zur Freiheit und aus Zuneigung zu seinem Land.

Gleiches gilt für George Steiner. Auch er konfrontiert uns oft mit Unbequemen. Auch ihm geht es dabei um die Wahrheit. Und auch er tut es aus Zuneigung – aus Zuneigung zur europäischen Geistesgeschichte, zur Sprache und zum humanistischen Menschenbild. So teilen sie nicht nur sprachliche Brillanz und die Schärfe ihrer Analyse – sie teilen auch den Humanismus. Darin liegt die Wesensverwandtschaft der beiden.
Und daher hat George Steiner den Börne-Preis mit Fug und Recht – wie man im Deutschen sagt – verdient. Ich gratuliere ihm sehr herzlich dazu.

Vielen Dank


weitere Informationen und Links unter:
http://www.auswaertiges-amt.de/...
Trotz der Kritik im Detail auch Gratulation vom Kritiker dieser Laudatio.

Steiner zu lesen, das ist allemal spannend und anregend zugleich.  Das sei als Empfehlung verstanden. 

Sven Redaktion

 

mehr im Forum

 

Textprobe aus George Steiners Buch "Die Grammatik der Schöpfung"

... Ein Durst nach Erklärung, nach Kausalität wohnt unserer Natur inne. Wir wollen wissen: warum? Welche denkbare Hypothese kann eine Phänomenologie, eine Struktur empfundener Erfahrung erhellen, die so diffus und in ihren Ausdrucksformen so vielfältig ist wie die der "Terminalität"? Lohnt es sich, solche Fragen ernsthaft zu stellen, oder führen sie nur zu müßigem hochgestochenem Geschwätz? Ich bin mir nicht sicher. Die Unmenschlichkeit ist, soweit wir über historische Belege verfügen, immerwährend. Utopias, Gemeinschaften der Gerechtigkeit und Vergebung, hat es nicht gegeben. Unsere aktuellen Besorgnisse - über die Gewalt auf unseren Straßen, über die Hungersnöte in der sogenannten Dritten Welt, über Regressionen in barbarische ethnische Konflikte, über die Möglichkeit pandemischer Seuchen - müssen vor dem Hintergrund eines exzeptionellen Moments gesehen werden. Ungefähr von der Schlacht bei Waterloo bis zu den Massakern an der Westfront in den Jahren 1915-16 hat die europäische Bourgeoisie eine privilegierte Zeitspanne, einen Waffenstillstand mit der Geschichte erlebt. Gestützt auf die Ausbeutung der Industriearbeiter im eigenen Land und die Kolonialherrschaft in anderen Ländern, erfuhren die Europäer ein Jahrhundert des Fortschritts, der liberalen Ordnungen, der vernünftigen Hoffnung. Im zweifellos idealisierten Rückblick auf diesen außerordentlichen Kalender - man beachte den ständigen Vergleich der Jahre vor August 1914 mit einem "langen Sommer" - erdulden wir unser gegenwärtiges Unbehagen.
Doch auch wenn man selektive Nostalgie und Illusionen berücksichtigt, bleibt die Wahrheit bestehen: für ganz Europa und Russland wurde dieses Jahrhundert zu einer Zeit aus der Hölle. Auf mehr als 70 Millionen schätzen Historiker die Zahl der Männer, Frauen und Kinder, die in der Zeit zwischen August 1914 und den "ethnischen Säuberungen" auf dem Balkan durch Krieg, durch Hunger, Verschleppung, politischen Mord und Krankheit umgebracht worden sind. Entsetzliche Heimsuchungen durch Pest, durch Hunger und Gemetzel hat es schon früher gegeben. Der Zusammenbruch der Menschlichkeit in diesem 20. Jahrhundert birgt spezifische Rätsel. Er geht nicht auf Reiter der weiten Steppe oder Barbaren an den fernen Toren zurück. Nationalismus, Faschismus und Stalinismus (im letztgenannten Fall ist dies allerdings weniger klar) entspringen dem Kontext, der Lokalität, den administrativ-sozialen Instrumenten der Hochburgen der Zivilisation, der Bildung, des naturwissenschaftlichen Fortschritts und der humanisierenden Entfaltung, ob christlich oder aufgeklärt. Ich will nicht auf die schwierigen, in gewisser Weise herabwürdigenden Debatten über die Einzigartigkeit der Shoa eingehen ("Holocaust" ist eine aus dem Griechischen stammende edle technische Bezeichnung für ein religiöses Opfer, kein Name, der für gelenkten Irrsinn und den "Wind aus der Schwärze" angemessen ist). Doch es sieht in der Tat so aus, als sei die Auslöschung der europäischen Juden durch die Nazis eine "Singularität", nicht so sehr, was das Ausmaß - der Stalinismus hat weit mehr Menschen getötet -, sondern was die Motivation angeht. Hier erklärte man eine Kategorie von Menschen bis hin zum kleinen Kind für schuldig des Seins. Ihr Verbrechen war die Existenz, war der bloße Anspruch auf Leben.

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